Hola Chicas!: Auf dem Laufsteg meines Lebens (German Edition)
Links standen alle möglichen Studienfächer und rechts die Studienorte. Und was machte Jorge? Er hielt die linke Seite zu, denn das Studienfach war mir egal. Mich interessierte nur die rechte Spalte, wo die Länder aufgeführt waren, zwischen denen ich wählen konnte: DDR, Jugoslawien, Tschechoslowakei, UdSSR, Ungarn und die restlichen Ostblockstaaten.
Während ich darüber nachdachte, in welches Land ich gehen sollte, fiel mir meine Tante Juana ein, die sehr gebildet und belesen war. Ich nannte sie deshalb immer »die Enzyklopädie«. Sie hatte mir als Kind oft von fremden Ländern und spannenden Büchern erzählt, darunter auch von Kafkas düsteren Romanen. Mit ihren Worten hatte sie mir ein verlockend schönes Bild von Prag gemalt, das geheimnisvolle Goldene Gässchen mit seinen märchenhaften Häusern an der Innenmauer der Prager Burg so genau beschrieben und so plastisch von Kafka und seiner Heimat erzählt, dass ich mich für die Tschechoslowakei entschied. Also machte ich bei allen infrage kommenden Studienorten ein Kreuz, bevor ich die linke Seite aufdeckte und nachschaute, was man dort studieren konnte. Zwischen den möglichen Fächern fiel mir ein Studiengang ins Auge: Nuklearökologie in Bratislava. Denn Mode und Journalismus kamen nicht infrage, weil ich dazu in die UdSSR hätte gehen müssen. Nuklearökologie beschäftigt sich mit den Auswirkungen radioaktiver Strahlung auf unser gesamtes ökologisches System und vereint mehrere Disziplinen, die mir sehr gefielen: Mathematik, Biologie, Chemie und Physik. Außerdem ging es um Ökologie und Umweltschutz – Themen, die mich interessierten, damals in Kuba aber noch nicht populär waren. Das ist etwas Neues, dachte ich, das machst du. Und damit war die Entscheidung gefallen.
Obwohl ich in meiner Schule zu den Besten der Jahrgangsstufe gehörte, hatte ich den Studienplatz trotzdem noch nicht in der Tasche, da sich über achthundert Schulabgänger auf »meinen« Studiengang beworben hatten, für den nur vier Plätze zur Verfügung standen. Deshalb mussten alle Bewerber für Nuklearökologie drei Tage lang an die Universität nach Santa Clara und Prüfungen in Mathematik, Physik, Chemie, Literatur und so weiter ablegen. Noch einmal hieß es kämpfen, um meinen Traum – Europa – Wirklichkeit werden zu lassen. Innerhalb einer Stunde sollten wir in einem Multiple-Choice-Test zu jedem Fach so viele Fragen wie möglich beantworten. Wer die meisten schaffte, bekam die höchste Punktzahl.
Ein Gutes hatte dieser Prüfungsmarathon auf jeden Fall: Ich lernte dort eine meiner auch heute noch besten Freundinnen kennen: Ina oder mi flaca , wie ich sie nannte, weil sie so dünn war. Eine echte g uajira , ein sehr bäuerliches Mädchen und schüchtern dazu. Sie hatte eine Traumfigur, ein wunderschönes Gesicht und tolle Haare, aber auch einen Oberlippenflaum und ganz dichte, zusammengewachsene Augenbrauen. Ihre Körpersprache war katastrophal, ihre Klamotten schrecklich und ihr Gang etwas zwischen Feldarbeiter und Ente. Doch sie hatte ein großes Herz.
Als ich sie das erste Mal sah, waren wir sofort auf einer Wellenlänge. Ich mochte sie nicht nur vom ersten Moment an, sondern bekam sofort Lust, diese Chica in einem tollen »Frida-Kahlo-Look« zu stylen. Dass sie Glam hatte, stand außer Zweifel, nur hatte sie ihn noch nicht entdeckt.
Ina war sehr intelligent und dazu sehr korrekt, und ich glaube, manchmal litt sie unter meiner lässigen Art. Eine Geschichte werde ich nie vergessen: Am Abend vor der letzten Prüfung – Physik – fand in Santa Clara ein Konzert von Juan Formell und Los Van Van statt , einer der bekanntesten Salsabands in Kuba. Einer ihrer Songs , der in ganz Lateinamerika bekannt ist, hieß Sandunguera, was so viel wie »verführerisch« bedeutet. Ich habe diese Band geliebt, weil mir der Rhythmus ihrer Musik direkt in die Hüften ging. Prüfung hin oder her, ich wollte unbedingt in dieses Konzert. Erstens hatte ich so viel gelernt, dass ich fast nicht mehr konnte, und zweitens war ich gut in Physik. Deshalb beschloss ich: Was ich bis heute nicht weiß, werde ich nicht in einer Nacht lernen. Also kann ich auch zu Los Van Van gehen.
Als Ina mich aufgestylt weggehen sah, fragte sie ganz irritiert: » Ay, mi negro , mein Schwarzer« – das war ihr Kosename für mich –, »wohin gehst du denn?«
»Ich … Äh, ich geh zum Konzert von Juan Formell und Los Van Van.«
»Du bist verrückt, Jorge. Morgen ist doch die letzte Prüfung.«
»Weißt du
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