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Holst, Evelyn

Holst, Evelyn

Titel: Holst, Evelyn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Liebesunfall
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Krankenhäuser, hasste den Geruch von Siechtum und Medizin, von Jod und Tod und abgestandener Luft. Raus nur raus. „Bis bald“, flüsterte sie, winkte Hendrik zu und ging. „Meine Frau ist keine Florence Nightingale“, meinte dieser trocken, als er den Blick des Arztes sah. „Also – untersuchen Sie mich und dann will ich weiterschlafen.“
    Nein, ich tue es nicht, nahm sich Marion ganz fest vor, ich werde nicht schwach. Mein Mann braucht mich jetzt. Sie schaffte es, bis sie ins Taxi stieg und dem Taxifahrer ihre Adresse genannt hatte. Dann rief sie ihn an: „Ich komm vorbei“, flüsterte sie leise. „Ich kann jetzt einfach nicht allein sein.“
    Als der Wagen sechs Minuten später vor dem achtstöckigen Appartmenthaus hielt, in dem Ludwig Kaltenberg eins der beiden Penthäuser bewohnte, blieb sie einen Moment sitzen. Noch konnte sie zurück. Noch war nichts passiert. Doch, alles war passiert. „Wir sind da, junge Frau“, sagte der Fahrer. „Woll’n Sie ’ne Quittung?“ „Nein danke“, lehnte sie ab und stieg aus. Es weiß ja niemand, tröstete sie sich, und es ist ja auch nur noch einmal. Ein allerletztes Mal.
    Sie klingelte, seine warme Stimme kam durch die Gegensprechanlage: „Ich liebe dich, mein Schatz.“ Es summte, sie drückte die Haustür auf und stieg in den Fahrstuhl. Nie hatte sie Ludwig mehr geliebt. Und nie war sie trauriger gewesen.
    Als sie ausstieg, wartete er auf sie. Er wusste, warum sie gekommen war. Sie wollte Abschied nehmen. Auf ihre Art. „Schön, dass du gekommen bist“, sagte er und schloss die Tür hinter sich.

15. Kapitel
    An diesem Abend schmeckte Dr. Hans Melderis das Abendessen nicht, obwohl er eigentlich ein guter Esser war und seine Ehefrau Anita ihm sein Lieblingsessen gekocht hatte: Königsberger Klopse mit Kapernsauce und Kartoffelpüree. Es war etwas Besonderes, wenn er abends zuhause war, Handy und Pieper lagen immer griffbereit, oft genug wurde er wieder in die Klinik gerufen. Er war Neurologe und Gefäßspezialist, galt in Fachkreisen als das „Genie mit den Zauberhänden“, Patienten aus aller Welt wollten sich von ihm behandeln lassen. „Was ist los?“, fragte Anita Melderis, als er seinen Klops von einer Tellerseite zur anderen schob, sie wusste, es konnte nur ein Patient oder eine Patientin sein, denn ihre Ehe war harmonisch und Kinder hatten sie nicht. Er hob den Blick vom Teller: „Wie lange mach ich das jetzt, Anita, 18, 20 Jahre?“ „Genau 21 Jahre und vier Monate“, sagte sie nach einer Sekunde Nachdenken. „Ich weiß dass so genau, weil …“ „Wir am Tag meiner letzten Prüfung deinen 19. Geburtstag gefeiert haben.“
    Sie lächelten, in Erinnerungen versunken. „Also, jetzt sag schon. Warum diese Leichenbittermiene bei meinen wunderschönen Königsberger Klopsen? Hast du einen ahnungslosen Patienten in den Rollstuhl operiert?“
    Er sah sie so entsetzt an, dass sie ihre unbedacht geäußerten Worte sofort bereute. Sie wusste doch, dass er beruflich keinen Spaß verstand. „Entschuldige bitte“, sagte sie reumütig und schob sich einen halben Klops in den Mund, einer musste sie ja essen. „Das war geschmacklos von mir. Ich bin jetzt ruhig. Erzähl.“ „Über zwanzig Jahre Berufserfahrung“, sagte er leise. „Über zwanzig Jahre lang flicke ich verletzte Menschen zusammen und oft genug hab ich ja auch Glück.“ „Das hat nichts mit Glück zu tun“, unterbrach sie ihn. „Du bist ein begnadeter Operateur, der Scheich von Abu..., sorry, ich wollte ja den Mund halten.“ „Heute hatte ich kein Glück“, fuhr er fort. „Ich habe einen Mann operiert, der vermutlich den Rest seines Lebens im Rollstuhl verbringen muss. Er hat eine Einblutung im Rückenmark, die ich nicht stoppen konnte.“ „Unfall?“, fragte sie. „Junger Kerl, Disco, zuviel getrunken?“ Das waren nämlich die meisten Unfallopfer. „Junge Frau, Fahrrad, nicht aufgepasst“, sagte er. „Aber sie hat nur einen Beinbruch, der Autofahrer, der ihr ausweichen musste, wurde schwer verletzt. ICH HASSE ES“, schrie er plötzlich und stand auf: „Ich hasse es, wenn durch einen einzigen unbedachten Moment ein ganzes Leben zerstört wird. Ich hasse es, wenn ich einen Menschen wieder zunähen muss, dem ich nicht helfen konnte. Mir graut jetzt schon davor, morgen früh an seinem Bett zu sitzen, wenn er wieder klar ist, und ihm die Wahrheit zu sagen.“ „Und die wäre?“, fragte sie. „Wenn kein Wunder geschieht, bist du ein Krüppel“, er setzte sich wieder.

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