Holst, Evelyn
„Aber natürlich werde ich das anders formulieren. Die Hoffnung stirbt zuletzt, das weißt du ja.“
Er setzte sich wieder. Sie streichelte seine Hand. „Dass dir das noch immer so zu Herzen geht“, sagte sie leise. „Aber dafür liebe ich dich.“
Zur selben Zeit lag Leonie neben ihrer Tochter auf dem kleinen Kinderbett und las ihr eine Gutenachtgeschichte vor: „Und dann kuschelte sich der kleine Lausebär auf der Wolke zurecht und sagte zu seiner Bärenmami: ‚Ich hab dich so lieb, von hier bis zur nächsten Wolke.’ Und die Bärenmami küsste ihn und lächelte: ‚Und ich hab dich lieb bis zum Mond und wieder zurück.’“ Luna drehte ihr Kopfkissen um, weil sie direkt auf dem weißen Schäfchen liegen wollte, das die Vorderseite schmückte. „Mami?“, ihre Stimme klang schläfrig. „Was ist mein Schatz?“, die Wirkung der Schmerzmittel hatte nachgelassen, das Bein schmerzte höllisch, aber Leonie wollte sich nicht länger betäuben, wollte den Schmerz aushalten. „Wird Marius mein neuer Papi? Dann wünsch ich mir auch nie wieder was zum Geburtstag und nie wieder was zu Weihnachten. Bitte Mami, bitte.“
Leonie seufzte. Sie wusste, wie sehr ihre Tochter Marius liebte, sie hatte diese Frage erwartet und gefürchtet. Aber sie durfte Luna keine falschen Hoffnungen machen. „Marius ist unser bester Freund, mein Schatz“, sagte sie deshalb, „und das bleibt er auch.“ „Ich will aber einen Papa“, Luna war genauso hartnäckig wie ihre Mutter. „Ich will eine richtige Familie. Nicht immer nur wir beide.“ Ich auch nicht, dachte Leonie, aber dein Vater will uns nicht, der hat schon eine Familie. Aber natürlich sagte sie das nicht.
„Ich weiß, mein Schatz“, sagte sie, „und ich kümmere mich darum. Und jetzt schlaf schön.“ Sie küssten sich, Lunas Lippen schmeckten nach Zahnpasta mit Erdbeergeschmack. „Nacht, Mami“, flüsterte sie und vergrub ihr kleines Köpfchen ins Schäfchenkissen. „Nacht mein Schatz“, flüsterte Leonie zurück und schloss leise die Kinderzimmertür.
Allein im Bett ging ihr sein Bild nicht aus dem Kopf. Wie blass er ausgesehen hatte, wie schwach! Warum liebte sie ihn so? Gern hätte sie sich einen Stuhl ans Bett geschoben und wäre bei ihm geblieben, solange, bis er aufwachte. „Alles wird gut“, hätte sie ihm zugeflüstert. „Ich bleibe bei dir. Ich liebe dich.“
Mit einem Lächeln auf den Lippen schlief sie ein.
16. Kapitel
Als die Welt um ihn herum wieder klarer wurde, wäre er am liebsten sofort wieder in das dunkle Tief des Schlafes getaucht, denn seine neue Welt war kalt und ungemütlich. Das Oberlicht über seinem Krankenbett tat seinen Augen weh, die Schwestern, die ununterbrochen an ihm herumfummelten hatten kalte Hände und müde Augen. Er wollte nach Hause, in seine gewohnte Umgebung, wollte diesen ganzen Albtraum vergessen. „Schwester“, rief er und ein weißer Kittel, der gerade durch die Tür entfleuchen wollte, drehte sich wieder um. „Was ist los mit mir?“
Sie kam langsam auf ihn zu. Sie war noch jung und ihre Augen sahen ihn ängstlich an. Wovor hatte sie Angst? „Ich hole einen Arzt“, sagte sie schnell und verschwand.
„Guten Morgen, Herr von Lehsten“, Dr. Melderis hatte das Krankenzimmer so leise betreten, dass Hendrik ihn nicht hatte hereinkommen hören. „Wie geht es mir?“, fragte er unverblümt, direkt und es war ein Glück, dass er nicht wusste, wie zögerlich der Arzt, der jetzt auf dem Stuhl an seiner Bettseite Platz genommen hatte, seine Worte formulierte. „Wie fühlen Sie sich denn?“, fragte er zurück und dachte, wie viel Wahrheit kann dieser Mann verkraften? „Ich fühle mich beschissen“, sagte Hendrik böse. „Haben Sie sonst noch eine dumme Frage in petto?“ Dr. Melderis war weit davon entfernt, seinem Patienten diese Frage übel zu nehmen, im Gegenteil, er war erleichtert. Wut, Ärger, alles war besser als Traurigkeit und Depression. Hendrik von Lehsten war ein Kämpfer, das sah Dr. Melderis sofort, einer der nicht aufgab, auch wenn ihm das Schicksal so einen schweren Knüppel zwischen die Beine warf wie jetzt. Er beschloss, ihm die Wahrheit zu sagen, unverblümt, direkt. Ihn nicht zu schonen. „Sie haben eine Rückenmarksverletzung“, fing er an und beobachtete seinen Patienten sorgfältig. Wenn er sich in dessen Stärke getäuscht hatte, hatte er jede Menge Notwahrheiten parat. „Geht’s etwas genauer?“, fragte Hendrik, und sah zur Tür, denn in diesem Moment kam seine Frau herein.
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