Holst, Evelyn
gehen Sie erst mal von einem Leben im Rollstuhl aus, trainieren Sie alle Muskeln oberhalb Ihres Bauchnabels – und freuen Sie sich vor allem auf Ihr Kind! Glück und Zufriedenheit sind die beste Medizin!“
Dr. Melderis hielt inne und wartete auf die Reaktion. Eigentlich hasste er diese medizinischen Peppelsprüche, wie seine Frau das nannte, die in seinen Ohren genauso hohl und hilflos klangen, wie in denen seiner Patienten. Aber etwas Besseres hatte er in dieser Situation nicht zu bieten. Das klingt nach lebenslangem Rollstuhlschieben, dachte Marion verbittert und hoffte, dass es ihr gelang, sich ihre bösen Gedanken nicht anmerken zu lassen. „Vielen Dank, Dr. Melderis“, sagte sie und gab ihm eine kalte Hand.
Der Arzt nickte freundlich und verließ das Krankenzimmer. „Das klang doch nicht schlecht“, Hendrik schlug seine Bettdecke zurück. „Und jetzt hilf mir bitte in den Rollstuhl, Marion. Ich will nach Hause.“
31. Kapitel
Drei Monate später.
„Möchtest du noch etwas Orangensaft?“, fragte Marion und als Hendrik nickte, rief sie nach ihrer Haushälterin: „Uschi, wir brauchen neue Vitamine!“
Ihre Stimme klang angestrengt fröhlich und unwillkürlich wappnete sich Hendrik, weil er wusste, wie schnell im Augenblick ihre Laune umkippen konnte. Sie konnte morgens fröhlich aufwachen und bereits beim Frühstück eine solche Donnerlaune haben, dass Uschi schweigend und sorgenvoll das Morgenmüsli servierte, aus Angst, das erste Opfer von Marions schwankender Gemütslage zu werden. Uschi stellte die Karaffe mit dem frisch gepressten Orangensaft auf den Tisch. „Wie ist das allgemeine Befinden?“, fragte sie vorsichtig und warf einen Blick von Marion zu Hendrik. „Sehr gut, Uschi“, rief Marion und Hendrik nickte dazu: „Könnte gar nicht besser sein, danke der Nachfrage.“
Sein Blick fiel auf den schmalen, schwarz gebundenen Gedichtband von Erich Fried, der auf der Biedermeierkommode lag, die in Griffweite des Esszimmertisches stand. Er hatte ihn dort abgelegt und vergessen und schnell griff er danach und legte ihn neben seinen Teller. Doch Marion hatte seinen Griff bemerkt und zog etwas süffisant die Augenbrauen hoch. „Schon wieder Erich Fried, mein Schatz? Doch sicher nicht meinetwegen.“
Nein, dachte er traurig, nicht deinetwegen. Sie wusste, dass Fried sein Seelentröster war, dass er dessen Gedichte immer dann las, wenn sich seine Seele in Aufruhr befand. Nach wie vor im Ausnahmezustand. Nach wie vor voller Sehnsucht nach einer anderen Frau.
Gestern Nacht, sie schlief bereits, hatte er den Gedichtband aus seiner Nachttischschublade geholt und das Gedicht „Warum“ gelesen. Jedes Wort hatte ihm weh getan.
Nicht
Weil ich lieben
Muss
Sondern weil ich
Dich
Lieben
Muss ...
Marion hatte etwas im Schlaf gemurmelt und er hatte das Buch weggelegt, um frühmorgens, kurz bevor sie erwacht war, die letzte Strophe zu lesen:
Vielleicht
Weil ich bin
Wie ich bin
Aber sicher
Weil du
Bist
Wie du bist.
Er klappte das Buch energisch zu. Er musste Leonie vergessen. Er musste.
„Um wie viel Uhr ist noch mal der Geburtsvorbereitungskurs, Schatz?“, fragte er und schob seine Sehnsucht ganz weit weg. „Meine Güte, merk es dir doch endlich: um 15.00 Uhr, wie immer!“, rief Marion, und sie konnte es nicht ändern, dass ihre Stimme schon wieder leicht gereizt klang. Hendriks und Uschis Augen trafen sich. Uschi verließ schnell das Zimmer und ging in die Küche, um einen Apfelkuchen zu backen. Das beruhigte.
Hendrik griff nach Marions Hand und hielt sie eine Sekunde lang fest. „Bis heute Nachmittag“, versuchte er, die Traurigkeit aus ihren Augen wegzulächeln. „Ich werde pünktlich sein.“
Dann griff er in die Speichen seines Rollstuhls, wendete geschickt und verließ das Zimmer ebenfalls. Marion sah ihm nach, sie bereute ihre Gereiztheit, schämte sich, aber sie kam einfach nicht dagegen an. Aus dem Fenster beobachtete sie, wie Hendrik zum inzwischen behindertengerecht umgebauten Wagen rollte und mit geübten Bewegungen erst sich selbst auf den Fahrersitz hievte, dann den Rollstuhl zusammenklappte und ihn im Auto verstaute. Er schien soviel besser mit seiner Situation klarzukommen als sie. Er ging, bzw. fuhr wieder jeden Tag in seine Produktionsfirma, die Geschäfte liefen bestens. „Mein Behindertenbonus“, hatte er gescherzt, als er es geschafft hatte, seinem Konkurrenten einen Riesenauftrag direkt vor der Unterschriftsreife wegzuschnappen. „Die Leute geben mir
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