Holst, Evelyn
waren gepackt, das hatte Marion bereits am Vortag erledigt. Mit dem Rücken zu ihm hatte sie seine Wäsche in den Koffer gelegt, stumm, beschäftigt. „Lass doch, das kann die Schwester machen, du sollst dich nicht so anstrengen in deinem Zustand“, es war liebevoll gemeint, aber sie hatte sich umgedreht, eine Hand ins Kreuz gestützt, und gewährte ihm die volle Sicht auf ihren vorgewölbten Bauch. „Sehe ich aus wie ein Gebrechliche?“, sie seufzte, nicht über seine Frage, sondern über die Gereiztheit ihrer Antwort. Sie hatte sich so fest vorgenommen, nett zu ihm zu sein, einen neuen Anfang zu versuchen, aber es war so schwierig. Während sie die Tränen unterdrückte, zwang sie sich zu einem Lächeln. „Wie sehe ich aus, mein Schatz?“, fragte sie. Er lächelte zurück. „Gut siehst du aus“, sagte er, als sie jetzt auf ihn zuging. „Unser Baby steht dir gut.“ „Danke“, hatte sie erwidert, während ihre Augen sich verdunkelten. „Ich fühle mich auch gut.“
Sie setzte ich auf sein Bett und nahm seine Hand. „Werden wir es schaffen, Hendrik?“, ihre Stimme klang ernst und sehr traurig. „Werden wir unserem Kind die Eltern sein, die es verdient?“ Kurz fiel ihr Blick auf den Rollstuhl, der vor dem Fenster stand. Er folgte ihrem Blick und wusste, was sie nicht aussprach. Bist du als Krüppel überhaupt ehe- und kindertauglich? Werde ich es schaffen mit einem Baby und einem Mann, der nicht gehen kann? Er konnte es nur hoffen. „Darf ich?“, fragte er stattdessen und legte die Hand auf ihren Bauch. Es war das erste Mal, das er dies tat, und fast wäre sie zurückgezuckt, fast kam ihr diese Männerhand, die keine Väterhand war, auf ihrem Babybauch wie unerlaubt vor. „Und, was fühlst du?“, fragte sie beherrscht und wünschte sich plötzlich mit aller Kraft, mit aller Sehnsucht, dass sie es schaffen würde, diesen Mann wieder zu lieben. Und den anderen, an den sie noch immer jeden Tag voller Zärtlichkeit dachte, endgültig zu vergessen. Hendrik schloss die Augen und konzentrierte sich auf das Gefühl seiner Hand auf Marions Bauch. Die Haut war glatt und warm und straff gespannt wie ein Ballon. Und plötzlich fühlte er, ganz tief drinnen, eine kleine Bewegung. Und noch eine. „Ich glaube, unser Kind will mir ‚Hallo’ sagen“, flüsterte er und schämte sich nicht, dass seine Augen feucht wurden. Plötzlich hielt es Marion nicht mehr aus. Sie stand auf und ging auf den Koffer zu. „Das macht es oft in letzter Zeit“, sagte sie, ohne sich umzudrehen. „Soll ich den grauen Pullover einpacken oder willst du ihn anziehen?“
„Pack ihn ein“, sagte Hendrik. Sie würden es nicht schaffen, das wusste er jetzt.
In die Stille hinein, die auf seine Worte folgte, wurde die Tür aufgerissen. Fast erleichtert lächelten Hendrik und Marion dem kleinen, immer eiligen Dr. Melderis zu, der nach einem Begrüßungsnicken und der Erklärung, er mache hier eine Urlaubsvertretung für einen befreundeten Kollegen, auf der noch warmen Stelle Platz nahm, die Marion gerade freigemacht hatte. „Ein schöner Tag“, strahlte er, sein Berufsstrahlen, das ihm zur zweiten Natur geworden war. Seine Frau sagte oft, er sei wie ein nicht ausgeschaltetes Atomkraftwerk, aber die kannte ihn auch besser. „Das finde ich auch“, meinte Hendrik von Lehsten. „Ich bin wirklich froh, dass ich endlich gehen kann.“ An die kleine, ungemütliche Stille, die seinen Worten folgte, würde er sich gewöhnen müssen, das ahnte er. Auch Marion sah peinlich berührt aus. „Es wird mir schwer fallen, dieses Wort aus meinem Sprachschatz zu streichen“, lachte Hendrik deshalb und wusste selbst wie gezwungen er klang. „Quatsch“, Dr. Melderis hatte sich erhoben und wie ein flammendes Ausrufungszeichen vor seinem Bett aufgebaut. „Sie müssen gar nichts. Vor allem sich keine Gedanken über solche Unwichtigkeiten machen.“
Marion räusperte sich und wagte endlich die Frage, deren Antwort ihr soviel Angst machte. „Wird mein Mann seinen Rollstuhl je wieder verlassen können?“ Dr. Melderis lachte ein sehr gelöst klingendes Lachen, auch das konnte er sehr überzeugend: „Tja, Herr von Lehsten, es sieht alles so gut aus, wie nur möglich! Und sogar die Einblutung ist gestoppt – d. h., möglicherweise werden Sie irgendwann wieder gehen können! Aber das hängt ganz entscheidend von Ihrer psychischen Verfassung ab. Da kann ich gar keine Prognose abgeben. Bald? Irgendwann? Nie? Da hat der liebe Gott das letzte Wort! Jetzt
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