Holst, Evelyn
Aufträge, weil ich ihnen leid tue.“ „Nein“, hatte sie erwidert und ihn in einer selten gewordenen Aufwallung von Zärtlichkeit geküsst, „so blöd sind die Leute nicht. Du bist der Beste und daran hat der Rollstuhl auch nichts geändert.“
In diesem Moment spürte Marion kleine Tritte in ihrem Bauch. Ach, dachte sie zärtlich, ich freu’ mich so auf dich! Mein einziger Lichtblick! Aber ich vermisse deinen Papa so sehr, dass ich’s gar nicht aushalten kann!
32. Kapitel
Am Frühstückstisch von Leonie war um diese Zeit die Stimmung recht friedlich. Malte und Marius waren da, die Kinder hatten die übliche CINI-MINI-Kakaoschlacht geschlagen, den Tisch verwüstet und waren in Lunas Kinderzimmer verschwunden. „Macht euch bereit, Kinder, in 10 Minuten müssen wir los! Marius fährt uns, der Gute.“ Leonie sah Marius an. „Du bist ein Schatz. Danke dafür!“ Marius warf ihr einen zärtlich-wehmütigen Blick zurück. „Dafür nicht!“ Für dich täte ich noch ganz andere Sachen, ALLES täte ich für dich!, dachte er, und ihm fiel ein alter Schlager ein, den er eigentlich sehr kitschig fand, aber jetzt passte er leider auf ihn:
Gib mir mein Herz zurück, du brauchst meine Liebe nicht, gib mir mein Herz zurück, bevor’s auseinanderbricht …
Er vermisste die alte Leonie, die heitere, manchmal zornige, aber nie schlecht gelaunte, nie trübsinnige Leonie. Er vermisste ihr Lachen, ihre blöden Witze. Er vermisste alles an ihr.
Seit dem Unfall hatte sie sich verändert. Sie war viel ernster geworden, nachdenklicher, stiller. Oft schien sie mit ihren Gedanken ganz weit weg zu sein. Sie schimpfte auch viel weniger mit ihm wegen seiner Schlampigkeit, seiner oft ein wenig zu entspannten und sorglosen Art. Nur einmal war sie laut und heftig geworden, als er wie üblich „vergaß“, sich und die Kinder im Auto anzuschnallen. „Das will ich NIE-NIE wieder sehen!“, hatte sie geschrien. Die Kinder hatten sich sehr erschrocken, Marius auch. „Darf ich fragen, warum du dich auf einmal derartig aufregst?“, wagte er zu fragen, aber sie hatte ihn nur wütend angeblitzt. „Denk nach, du Idiot, denk einmal nach!“
Sie hatte ja Recht. Und seitdem fuhr in seinem Taxi kein Mensch mehr, der nicht den Gurt angelegt hatte. Manchmal ertappte Marius sich bei dem Gedanken, ob es die Frau, die er sich so glühend für sich und seinen Sohn gewünscht hatte, eigentlich noch gab, ob sie irgendwann zurückkehren würde. Es sah immer weniger danach aus.
„Wann ist nun eigentlich der Prozess?“, fragte er und tauchte seinen Finger ins Nutellaglas, was ihm ein entrüstetes „Händewaschen, du Ferkel“ von Leonie eintrug.
Sie seufzte. „Nächste Woche!“, sie konnte nur mit Herzklopfen daran denken, es war das Letzte und Einzige, was sie noch mit Hendrik verband. Wenn man die zärtlichen, sehnsüchtigen Gedanken, die sie ihm jeden Abend schickte, nicht mitzählte. Vor einer Woche hatte sie auf ihrem Balkon gestanden, es war Vollmond, und der Himmel war voller Sterne, was in der Großstadt eine Seltenheit war. Sie hatte nach oben geblickt, sich einen Stern ausgesucht. „Der ist für dich, Hendrik“, hatte sie geflüstert. „Er soll dir sagen, dass ich nie aufgehört habe, dich zu lieben. Ich hoffe, es geht dir gut, mein Schatz.“ Als sie sich die Tränen aus den Augen gewischt hatte und wieder nach oben schaute, zischte eine Sternschnuppe an ihr vorbei. Sie war sicher, dass sie auf dem Weg zu Hendrik war. „Denk an mich, mein Schatz, vergiss mich nicht.“
Leonie war ihm sehr dankbar, denn er hatte es durchsetzen können, dass seine Frau die Zivilklage zurückgezogen hatte. Aber den Staatsanwalt konnte auch er nicht stoppen und deshalb war ein Prozess unvermeidbar. In den Akten waren sie Unfallsgegner, er und sie, und wäre die Lage nicht so kompliziert, fast hätte sie darüber gelacht. Sie waren keine Gegner, sie waren das genaue Gegenteil. Trotzdem hatte sie eine riesengroße Angst vor dem Prozess. Nicht vor einem harten Urteil, ihre Anwältin Anja Heese hatte sie bereits beruhigt und ihr gesagt, dass sie, wenn überhaupt zu einer Gefängnisstrafe mit Bewährung verurteilt werden würde. Ihre Angst lag ganz woanders. Ihre Angst lag in der Unruhe ihres Herzens. Was würde es tun, wenn sie ihn wiedersah? Einfach aufhören zu schlagen? Würden ihr die Worte im Hals stecken bleiben, die sie sich bereits seit Wochen zurecht gelegt hatte? „Guten Tag, Herr und Frau Lehsten, es tut mir alles ganz schrecklich leid.
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