Holst, Evelyn
Enttäuschung, Liebe. Und Verantwortung. „Es ist nicht mehr wichtig, Leonie“, sagte er ruhig. „Wir werden uns nicht wiedersehen. Was zwischen uns war, ist nie passiert.“
Leonie hatte schon den Mund geöffnet, um zu protestieren, aber sie erkannte, dass es zwecklos war. Sie wusste, dass ihre Liebe zueinander noch lebendig war, aber sie durfte es Hendrik nicht noch schwerer machen. „Ich verstehe“, sagte sie deshalb und war froh, dass er nie erfahren würde, wie viel es sie kostete, die Tränen zu unterdrücken, die sie zu überschwemmen drohten. Ich weine später, schwor sie sich, wenn keiner zuschaut.
„Dann geh jetzt bitte, es ist alles gesagt“, Hendrik schlug die Zeitung auf, die auf dem Bettende gelegen hatte und schien sie zu ignorieren. Leonie wusste, dass sie verloren hatte. „Nur noch eine einzige Frage, Hendrik?“, ihre Stimme bettelte, er sah hoch und für eine letzte, schmerzhaft süße Sekunde verschmolzen ihre Blicke. „Kannst du mir verzeihen?“
Sein Blick fiel auf seine weiße Decke, unter der seine Beine lagen, steif und bewegungslos. Er dachte daran, wie selbstverständlich ihm diese Beine in seinem früheren Leben zu Diensten gewesen waren. Beim Tennisspielen, beim Bergwandern oder Segeln, bei der Liebe. In ein paar Tagen würde er entlassen werden. Auf seinem Nachttisch lag eine Broschüre über Rollstühle. Hochglanz. Was für ein schlechter Witz!
Sein Leben war ein schlechter Witz geworden.
„Nein“, sagte er und sah an ihr vorbei. „Ich verzeihe dir nicht. Und zwar aus dem ganz einfachen Grund nicht: Du gehst aus diesem Krankenhaus und ich werde geschoben. Und zwar im Rollstuhl. Weil du zu faul warst, dein Licht zu reparieren, und unbedingt Zabaglione essen wolltest. Und jetzt hau ab und verschwinde aus meinem Leben.“
29. Kapitel
Sie ging ohne ein weiteres Wort. Die Tränen kamen in der Buslinie 109, mit der sie nach Hause fuhr. Sie saß ganz hinten in der letzten Reihe am Fenster und sah nach draußen, aber die Konturen verschwammen vor ihren Augen. Der Gedanke, was sie ihm angetan hatte, war so schrecklich, dass sie nicht wusste, wie sie mit ihm weiterleben sollte. Die Vorstellung, ihn nie wieder zu sehen, war noch schrecklicher. Zum Glück gab es Luna.
Als Leonie an ihre kleine Tochter dachte, die um diese Zeit vermutlich mit Malte vor SpongeBob saß, da wurde für einen Moment ihre Welt wieder hell. Es gibt ja auch noch ein anderes Leben, dachte Leonie, ein Leben mit Kinderlachen und ... Maltes Kindergeburtstag fiel ihr wieder ein, sie hatte noch kein Geschenk besorgt, sie stand auf und rief dem Busfahrer „Ich möchte aussteigen, bitte“ zu, und da der Bus gerade an einer roten Ampel stand, war dieser so freundlich, seine Tür zu öffnen. Leonie sprang aus dem Bus. Sie stand auf dem Bürgersteig und straffte ihre Schultern. Dann griff sie zu ihrem Handy: „Schatz, ich bin’s, die Mama. Sag mir noch mal schnell, was sich Malte zum Geburtstag wünscht. Ein Computerspiel von Harry Potter? Na gut.“ Sie steckte das Handy in ihre Handtasche zurück und bog in die Hauptstraße ein, in der ein großer Mediamarkt lag. Sie zwang sich, an nichts zu denken, außer an Harry Potter. Nichts zu fühlen, außer dem Regen, der angefangen hatte, sanft und kalt. Als sie den hell erleuchteten Eingang betrat, musste sie zur Seite treten. Ein Rollstuhlfahrer fuhr an ihr vorbei, mit den Händen griff er in die Speichen, um besser voran zu kommen. Er sah traurig und verbittert aus. Schlagartig war alles wieder da.
„Keinen Appetit heute Abend?“, fragte die Nachtschwester und schob das unberührte Tablett auf ihren Rollwagen. Hendrik lies die Zeitung sinken, die er gerade las und schüttelte den Kopf. „Ich bin auf Diät“, lächelte er. „Sie brauchen Ihre Kräfte, Herr von Lehsten“, sagte die Schwester tadelnd. „Außerdem: Keine Frau ist es wert, dass man sich ihretwegen zu Tode hungert.“ Ohne seine Antwort abzuwarten, schob sie den Rollwagen aus dem Krankenzimmer. Klatsch und Tratsch reisten schnell durch die Krankenhausflure, die Tatsache, dass der Patient von Lehsten von zwei Damen besucht worden war, wusste inzwischen das gesamte Krankenhauspersonal. Es hätte Hendrik vermutlich amüsiert zu erfahren, wie leidenschaftlich über sein vermutetes Liebesleben spekuliert wurde. Hatte er mit beiden? Aber was? Wussten die Frauen voneinander? So weit auch die Meinungen der Schwestern und Pflegerinnen auseinander gingen, über eines waren sich alle einig. So schade, dass
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