Holt, Anne - Hanne Wilhelmsen 5
Wasser und ins überfüllte Rettungsboot
gezogen, nur um entdecken zu müssen, daß der Freund keinen Unterleib mehr
hatte.
Ole Monrad Karisen legte die Hand über die Augen, schluckte noch einmal
und dachte, daß er diesmal auf jeden Fall die Polizei verständigen müsse.
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»Laß es klingeln«, murmelte Cecilie.
Leichte Sommerwolken trieben über ihnen dahin. Konturlos und durchsichtig
ließen sie den Himmel verblassen und die Sonne weiß aussehen. Hanne und
Cecilie lagen auf dem Rücken und hielten einander an den Händen. Es war
schon später Vormittag, und sie spürten die Wärme der Felsen durch ihre
Kleidung. Der Wind hatte sich gelegt. Die Seeschwalben schrien, und Hanne
hoffte für einen Moment, es sei nur ein Schrei gewesen, als sie ihr Handy
hörte.
»Geht nicht«, sagte sie resigniert und setzte sich auf. »Wilhelmsen?«
Irgendwer redete am anderen Ende lange auf sie ein. Hanne Wilhelmsen sagte
erst etwas, als sie am Ende versprach, in zehn Minuten zurückzurufen. Dann
beendete sie
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das Gespräch und schaute aufs Meer hinaus. Ein Colin-Ar-cher-Schiff tuckerte
auf den Hafen zu, und am Horizont war ein Tanker auf dem Weg nach Westen.
»Wer war das?« fragte Cecilie, ohne die Augen zu öffnen.
Hanne gab keine Antwort. Sie griff nach Cecilies Hand und drückte sie. Cecilie
setzte sich auf.
»Danke, daß du mit hergekommen bist«, flüsterte sie und pflückte in einer
Felsspalte eine trockene Strandnelke. »Es war so schön hier. Mußt du los?«
Sie lehnte sich an Hanne und kitzelte sie mit der Blume unter der Nase. Hanne
lächelte kurz und rieb sich das Gesicht.
»Ein Mord ist geschehen«, sagte sie leise. »Noch eine Enthauptung.«
Cecilie legte den Arm um sie und spürte ihr Haar an ihrer Wange.
»Und Halvorsrud ist auf freiem Fuß«, sagte sie langsam. »Hat das etwas mit
ihm zu tun?«
Hanne zuckte mit den Schultern. »Who knows«, sagte sie resigniert. »Aber
zwei Enthauptungen in einem Monat sind doch ziemlich auffällig. Ich habe
keine Ahnung. . . «
Sie verstummte und schlug die Hände vors Gesicht. Cecilie erhob sich langsam
und kniete sich hinter sie. Sie umarmte Hanne und wiegte sie langsam hin und
her.
»Es ist Ostersonntag«, flüsterte sie ihr ins Ohr. »Die werden doch sicher noch
einen Tag ohne dich fertig, oder?«
Drei Mädels von vielleicht zwölf Jahren tauchten plötzlich zehn Meter von
ihnen entfernt auf einer Felskuppe auf. Die Mädchen flüsterten miteinander,
eine prustete los und schlug sich die Hand vor den Mund. Dann waren sie so
plötzlich verschwunden, wie sie gekommen waren.
»Ich muß los«, sagte Hanne und richtete sich mit steifen Bewegungen auf
»Aber wenn du noch bleiben willst, dann kann ich versuchen, dich morgen
abend abzuholen. Mit
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Häkon und Karen darfst du auf keinen Fall fahren. Mit den Kindern wäre das
zu anstrengend für dich.«
Cecilie griff nach ihrer Hand. »Nie im Leben hast du Zeit, um mich zu holen«,
erklärte sie. »Ich komme jetzt gleich mit.«
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Es war Montag, der 5 . April, um acht Uhr abends. Hanne Wilhelmsen hatte
morgens kurz zu Hause vorbeigeschaut, um sich umzuziehen, und dabei
festgestellt, daß die vertrauten Kopfschmerzen im Anmarsch waren. Sie riß die
Augen auf und versuchte, ihren Blick auf die Unterlagen zu richten, die Billy T.
ihr eine Stunde zuvor gebracht hatte. Sie war dankbar dafür, daß er nie gegen
ihren Wunsch nach täglicher, schriftlicher Zusammenfassung protestiert
hatte. Die meisten Ermittler meinten, die offiziellen Dokumente müßten
ausreichen, sie könnten sich nicht auch noch die Zeit nehmen, um private
Mitteilungen für die Hauptkommissarin zu verfassen. Hanne Wilhelmsen
bestand aber trotzdem darauf, bei mehr oder minder lautem Widerspruch. Die
täglichen Zusammenfassungen der zahllosen Informationen, die in ständig
wachsenden Mappen und Ordnern steckten, halfen ihr, ein Gesamtbild zu
behalten. Die Ermittler erlaubten sich außerdem erfahrungsgemäß größere
Freiheiten, wenn sie wußten, daß das, was sie schrieben, nicht ins Protokoll
geraten würde, und sie teilten persönliche Ansichten und Meinungen mit.
Hanne Wilhelmsen wollte es so, und so geschah es dann.
Sie spülte mit lauwarmem Kaffee zwei Kopfschmerztabletten hinunter und las,
während sie sich mit den Fingerspitzen die Kopfhaut massierte.
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Bei dem Ermordeten handelt es sich um Evald Bromo, Journalist in
Aftenpostens Wirtschaftsredaktion. Er war 46 Jahre alt, verheiratet
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