Holt, Anne - Hanne Wilhelmsen 5
hat. Mit anderen Worten können wir annehmen, daß sie
damals miteinander gesprochen haben.
Wir überprüfen natürlich auch mögliche Beziehungen zwischen Sigurd
Halvorsrud und Bromo. Bisher haben sich keine feststellen lassen. Da sie
beide sich mit Wirtschaftsverbrechen beschäftigt haben, ist es jedoch sehr
wahrscheinlich, daß sie einander gekannt haben. Wir holen Halvorsrud
morgen zum Verhör her. Ich werde es selbst leiten.
Heute wurden sechs Zeugen vernommen (wegen der Ostereiertage waren sie
schwer zu erreichen). Drei davon sind Bromos engste Kollegen, die alle
behaupten, ihn ziemlich gut gekannt zu haben. Sie alle beschreiben ihn als
relativ stillen, gehemmten Mann, der nicht viel geselligen Umgang gepflegt
hat. Sie wissen nicht viel über seinen Bekanntenkreis, behaupten aber, er sei zumeist zu Hause bei seiner Frau geblieben, wenn er nicht gerade lief. Angeblich war er ein sehr tüchtiger Langstreckenläufer. Ein Zeuge beschreibt
Bromos Einstellung zum Laufen als »fanatisch«. Kein Zeuge weiß, wer etwas
gegen Bromo haben könnte, obwohl alle betonen, daß sie als Journalisten ab
und zu durchaus Probleme mit den Menschen haben, über die sie schreiben.
Stäle Salvesen ist also wieder der Joker.
Es wird Zeit, daß wir ihn gezielt suchen lassen. Vielleicht hätten wir das
schon früher tun sollen. Die Strömungsverhältnisse bei der Staure-Brücke
würden es ermöglichen, daß eine Leiche nach unten gepreßt wird und sich
möglicherweise am Boden festsetzt. Ich glaube eigentlich nicht, daß wir
etwas finden werden. Ein Gefühl im Bauch sagt mir, daß Stäle Salvesen sich
irgendwo bester Gesundheit erfreut.
Hanne Wilhelmsen versuchte, ein Gefühl in ihrem eige
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nen Bauch zu befragen. Aber das teilte ihr nur mit, daß sie seit vielen Stunden
nichts mehr gegessen hatte. »Teufel auch, Hanne!«
Karl Sommaroy stürzte durch die halboffene Tür und knallte ein Papier mit
zwei vergrößerten Fingerabdrücken vor ihr auf den Schreibtisch. Dann trat er
neben sie, legte ihr den Arm um die Schulter und richtete einen Zeigefinger
auf das Papier.
»Was glaubst du wohl, was das ist?«
Er lachte sein Kleinmädchenlachen und schlug mit der Hand auf den Tisch.
»Fingerabdrücke natürlich.« Hanne seufzte.
Sie unterdrückte ein Gähnen und spielte mit dem Gedanken, ihren Kollegen
zur Ordnung zu rufen. Obwohl ihre Tür angelehnt gewesen war, hätte er
anklopfen müssen.
»Aber was glaubst du, wem die gehören?«
Karl Sommaroy war außer sich vor Aufregung und redete weiter, ohne auf
Hannes Antwort zu warten: »Sie wurden in der Nähe von Evald Bromos
Leiche gefunden. Einer an einer Bretterwand zwei Meter weiter. Einer an der
Wand neben der Treppe.«
Die Kopfschmerzen waren schlimmer geworden. Irgend etwas pulsierte hinter
dem rechten Ohr, so, als stecke dort ein Nagel fest und wolle nach draußen.
Hanne steckte einen Fingerknöchel in ihre Augenhöhle und drückte energisch
zu.
»Und wem gehören sie also?« fragte sie resigniert und versuchte, sich von
seinem Arm um ihre Schultern zu befreien. »Ich bin ein bißchen zu müde für
solche Spiele.«
»Sie gehören Sigurd Halvorsrud«, sagte Karl und lachte wieder, laut, dünn
und schrill. »Sigurd Halvorsrud war in Stäle Salvesens Keller, wo Evald
Bromos Leiche gefunden worden ist. Ich freu mich schon darauf, wie er das zu
erklären versuchen wird.«
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Hanne Wilhelmsen ließ ihren Finger den feinen Linien der vergrößerten
Abdrücke folgen. Sie verschlangen sich miteinander wie die Markierungen auf
einer alten Orientierungskarte. Es war ein einzigartiges Terrain; unter den fast fünf Milliarden Menschen auf der Welt konnte nur Sigurd Halvorsrud diese
Abdrücke in dem Keller hinterlassen haben, in dem Evald Bromo ermordet
worden war. Und aus dieser Sache würde der ehemalige Oberstaatsanwalt sich
ganz einfach nicht herausreden können.
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Das Wasser im Äußeren Oslofjord war spiegelglatt. Zwei Seemeilen südlich des
Leuchtturms von Faerder lag ein Hochseesegler mit zwei Mann an Bord.
Petter Weider und Jonas Broch waren beide fünfundzwanzig und studierten
Jura, wenn sie nicht segelten. Was bedeutete, daß sie nur minimal büffelten.
Zu Ostern, das sie eigentlich über den Büchern hätten verbringen müssen, weil
das Examen nur noch einen Monat entfernt war, waren sie nach Kopenhagen
gesegelt, um Marihuana zu holen. Von einer großen Menge konnte nicht die
Rede sein, es gab für jeden nur ein Pfund, und
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