Holt, Anne - Hanne Wilhelmsen 5
bewältigen war: die
Kriminalität in Oslo zu drosseln.
Die Gewißheit umklammerte mit eisernem Griff ihren Hals, und ihr wurde
plötzlich schlecht.
Sie hatte angefangen, die Menschen zu sortieren.
Hanne Wilhelmsen war von der Aufklärung des Mordes an Doris Flo
Halvorsrud besessen gewesen. Doris war eine respektierte Karrierefrau,
Mutter und Gattin gewesen. Ihr Mann war ein tüchtiger Jurist. Hanne sollte,
wollte und mußte den Mord aufklären.
Evald Bromo dagegen war nur eine Pflichtübung. Evald Bromo war ein
Sittlichkeitsverbrecher, der sich an unglücklichen Kindern vergriff.
»Ich scheiße inzwischen darauf«, flüsterte sie sich selbst zu und schnappte
nach Luft, ehe sie sich wieder setzte.
»Geht's dir nicht gut?« fragte Mykland leise und legte die Hand auf ihre. »Bist
du krank?«
Hanne gab keine Antwort. Sie riß sich zusammen; sie schloß die Augen und
suchte nach einer letzten Kraftreserve. Sie mußte diese Besprechung zu Ende
bringen. Sie mußte fertig werden, einen Schlußstrich unter den Halvorsrud-
Mord ziehen und die Verantwortung für den Bromo-Mord einer fähigen
Person übertragen. Wenn sie nur diese Besprechung überlebte, dann würde sie
sich freinehmen. Sich beurlauben lassen. Sie wollte Tag und Nacht zu Hause
bei Cecilie sein, solange das nötig wäre, solange sie einander hätten, solange
Cecilie leben durfte.
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Wenn sie nur erst diese Besprechung hinter sich hätte.
Sie stand wieder auf, beugte sich vor, legte die Handflächen auf den Tisch und
holte tief Luft: »Evald Bromos Tod hat vermutlich nichts mit Halvorsrud zu
tun«, sagte sie unnötig laut. »Ich bin immer noch von seiner Pädophilie
überzeugt. Es ist gut möglich, daß ein Zusammenhang besteht zwischen seinen
sexuellen Perversionen und der Tatsache, daß er ermordet worden ist. Aber in
unserem eigentlichen Fall, dem Mord an Doris Halvorsrud, war Evald Bromo
nur ein Umweg. Wir müssen natürlich noch eine Menge Fäden entwirren, zum
Beispiel, warum wir Halvorsruds Fingerabdrücke im Keller in der Vogts gate
gefunden haben. Aber meine persönliche Theorie ist, daß er in einem Anfall
von Verzweiflung versucht hat, eine Möglichkeit zu finden, um seine Unschuld
zu beweisen. Ungeschickt und blöd, natürlich. Aber andererseits...«
»Überlegt doch mal, wie er sich gefühlt haben muß«, fiel Annmari Skar ihr ins
Wort. Bisher hatte sie während der ganzen Besprechung in einem Buch
geblättert, das für Hanne ausgesehen hatte wie ein Roman. »Er hat die ganze
Zeit die Wahrheit gesagt. Niemand hat ihm wirklich ge-> glaubt. Auch du
nicht, Hanne.«
Sie blickte die Hauptkommissarin herausfordernd an.
»Wenn du Halvorsruds Geschichte wirklich geglaubt hättest, dann hättest du
dich mehr engagiert. Nicht zeitmäßig. Alle wissen, daß du dir den Arsch
abgeschuftet hast.«
»Im wahrsten Sinne des Wortes«, murmelte Erik, seine Lippen waren nach
seinem Toilettenbesuch immerhin heller geworden, und er schaute Karianne
an, die mit ihrer Hand ein Lächeln verbarg.
»Aber du hättest stärker argumentiert. Dich mehr eingebracht. Du hättest dich
geweigert, ihn Woche für Woche da draußen sitzen zu lassen, wenn du ihm
wirklich geglaubt hättest. Und er hat das natürlich begriffen. Das Netz hat sich 251
immer mehr um ihn zusammengezogen; seine Lage muß ihm immer absurder
vorgekommen sein. Als ob er...«
»Und er mußte damit leben, daß er seine Frau im Stich gelassen hat«, sagte
Hans Christian Mykland. »Inmitten all der falschen Anklagen war er
vermutlich sein strengster Richter. Er hat ihren Mord zugelassen. Er hat sie
nicht verteidigt.«
»Wir hören jetzt auf«, sagte Hanne plötzlich.
Die Wände schienen auf sie zuzukommen. Sie hob noch einmal die
Plastiktasse zum Mund, aber die war leer.
»Aber Hanne«, drängte Erik streitsüchtig. »Wir können doch nicht mit
Sicherheit behaupten, daß Halvorsrud Bromo nicht umgebracht hat. Salvesen
hat post mortem eine Art Verantwortung für den Mord an Doris übernommen,
na gut... aber Tatsache ist, daß wir im Keller bei der Leiche die Fingerabdrücke des Staatsanwaltes gefunden haben, er hatte kein Alibi, er hat sich nicht
pflichtgemäß gemeldet...«
»Annmari hat recht«, sagte Hanne scharf und starrte den jüngeren Kollegen
mit dem lächerlich babyblauen Mund und der kreideweißen Haut unter den
knallroten Haaren an. »Ich habe mich nicht genug für Halvorsrud eingesetzt.
Aber das tue ich jetzt. Er ist unschuldig. Das wissen
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