Holt, Anne - Hanne Wilhelmsen 5
gesehen zu haben, ließ
sie auf eine Spur losgehen, die sie durch Unvorsichtigkeit zerstören könnte.
»Ich stecke in einer entsetzlichen Klemme«, sagte sie ehrlich nach einer
peinlichen Pause. »Sie wollen nichts von Ihrem Material hergeben. Das muß
ich natürlich respektieren. Aber trotzdem müssen Sie mir eine Frage
beantworten. Eine einzige Frage. Würden Sie das tun?«
»Es kommt darauf an. Ich habe ja versprochen, Ihnen alles zu übergeben,
wenn wir unsere Arbeit getan haben. Wenn Beweise vorliegen. Aber erst
dann.«
»Aber Sie müssen...«
Sie schaute zum Papierkorb hinüber, der einen nagelneuen Aschenbecher und
eine halbvolle Packung Marlboro light enthielt. Sie bückte sich, hob beides
heraus und ließ sich von Hansen, der erstaunt diesem ihm unverständlichen
Gespräch lauschte, Feuer geben.
»Haben Sie einen Polizisten auf Ihrer Liste?« fragte sie und behielt den ersten
Zug so lange in der Lunge, wie sie es nur aushielt.
»Sie würden staunen, in welchen Gesellschaftsklassen wir Sexualverbrecher
finden. Wußten Sie, daß Pädophile in Berufen, in denen man viel Kontakt zu
Kindern hat, überrepräsentiert sind? Arzte, Entwicklungshelfer,
Pfadfinderführer, Konfirmationspastoren, Handballtrainer...«
»Das weiß ich, Eivind!«
Sie hatte ihn noch nie mit Vornamen angeredet. Sie hatte ihn überhaupt nicht
mit seinem Namen angeredet. Und das ließ ihn verstummen.
»Ich kann nichts sagen«, hörte sie endlich; er schien sich
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zu bewegen, denn er atmete stoßweise. »Noch nicht. Aber es dauert nicht
mehr lange. Das kann ich versprechen.« »Eivind, warten Sie...«
Hanne hörte ihre eigene Stimme, die von einer Fremden zu stammen schien.
In diesem Augenblick beschloß sie, alle Computerexperten, die halbwegs
aufrecht stehen konnten, auf Eivind Torsvik loszujagen, wenn er ihr keine
Antwort gab. Sie würde selbst die Attacke leiten, sie würden das Haus am
Hamburgkilen stürmen und alles auf den Kopf stellen. Wenn er keine Antwort
gab.
»Sie müssen antworten. Es geht um ein Leben.«
Hansen starrte sie besorgt an. Sie legte die Hand auf den Hörer und flüsterte
über den Tisch: »Etwas schwierige Quelle. Muß übertreiben.«
»Ja.«
»Was? Was haben Sie gesagt?«
»Ja. Wir haben einen Polizisten auf unserer Liste. Zusammen mit zwei
Lehrern, einem Zahnarzt, zwei Geistlichen, die noch dazu Pflegekinder
haben...«
»Heißt er Iver Feirand?«
Es wurde ganz still. Hanne schloß die Augen, um besser hören zu können;
Eivind Torsvik hielt sich offenbar mit seinem schnurlosen Telefon im Freien
auf. Sie glaubte, Möwengeschrei und das ferne Tuckern eines Außenbord-
motors zu hören.
»Ja«, sagte er müde. »Er heißt Iver Kai Feirand. Das war der, der drei Jahre
gebraucht hat, um gegen meinen Pflegevater zu ermitteln. Iver Kai Feirand hat
meinen Fall sabotiert.«
»Iver K. Feirand«, sagte Hanne Wilhelmsen langsam. »Danke.«
Eivind Torsvik hatte schon aufgelegt.
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Der Mann, der seinem Paß zufolge Peder Kalvo hieß, saß in einer Lufthansa-
Maschine, die eben in Kopenhagen gestartet war. In einer guten Stunde würde
sie in Frankfurt am Main landen. Von dort würde er nach Madrid weiterfliegen
und dort einige Tage verbringen. Jedoch nicht mehr als vier.
Er war seit langem auf diese Situation vorbereitet.
Einen falschen Paß und ein ausländisches Bankkonto hatte er sich schon vor
Jahren zugelegt. Iver Kai Feirand war ein hochqualifizierter Polizist, der
wußte, was er zu tun hatte.
Seit er das geschlechtsreife Alter erreicht hatte, hatte er sich zu kleinen Jungen hingezogen gefühlt. Nie zu Männern. Wenn er überhaupt mit Erwachsenen
Sex hatte, was er jedoch zu vermeiden suchte, dann mit Frauen. Nie mit
kleinen Mädchen. Wenn er es mit einem Kind machen wollte, was in
regelmäßigen Abständen sein mußte, dann nahm er Jungen. Er selbst hatte
zwei Töchter. Die hatte er niemals angerührt, nicht auf diese Weise.
Natürlich war er ein tüchtiger Ermittler, wenn es um sexuelle Übergriffe ging.
Er wußte, worauf er zu achten hatte. Er sah es in den Augen der Verdächtigen,
er brauchte nur Sekunden, um die Frage von Schuld oder Unschuld zu ent-
scheiden. Methodisch und zielbewußt hatte er sich in seine jetzige Stellung
manövriert; seit sich die Möglichkeit zu Beginn der 8oer Jahre abgezeichnet
hatte, hatte er gewußt, was er erreichen wollte.
Seine Stellung gab ihm Macht.
Und das reizte ihn.
Sie gab ihm eine einzigartige Möglichkeit,
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