Holt, Anne - Hanne Wilhelmsen 5
dadurch wirkte sie zehn Jahre älter als ihr gleichaltriger Mann.
Da Adoption für die beiden nie ein Thema gewesen war, hatte Margaret
Kleiven ihr Leben ihrer Arbeit als Gymnasiallehrerin gewidmet und
betrachtete ansonsten ihren Mann als Ersatz für das Kind, das sie niemals
bekommen würde. Sie beugte sich über ihn und schob die Serviette in seinem
Hemdausschnitt zurecht, dann hob sie die Gabel auf.
»Der Frühling kommt in diesem Jahr außergewöhnlich spät«, wiederholte sie
leicht gereizt und zeigte energisch auf die Pfannkuchen. »Iß jetzt! Du hast
nicht viel Zeit.«
Evald Bromo starrte den Teller an. Der Sirup war zerflossen, die Butter
geschmolzen. Alles vermischte sich am Pfannkuchenrand zu einer fettigen
Soße, und ihm wurde schlecht.
»Hab heute keinen Hunger«, murmelte er und schob den Teller fort.
»Ist dir nicht gut?« fragte sie ängstlich. »Brütest du etwas aus? Im Moment
sind so viele Krankheiten im Umlauf. Vielleicht solltest du lieber zu Hause
bleiben.«
»Nicht doch. Hab einfach nicht gut geschlafen. Und ich kann doch in der
Redaktion essen. Wenn ich Hunger kriege, meine ich.«
Er zwang sich ein schmales Lächeln ab. Seine Achselhöhlen waren
schweißnaß, obwohl er eben erst geduscht hatte.
Dann sprang er auf.
»Aber Lieber, du mußt doch etwas essen«, sagte sie ener
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gisch und legte ihm die Hand auf die Schulter, um ihn wieder zum Sitzen zu
bringen.
»Ich gehe«, fauchte Evald Bromo und entzog sich der offenkundig
unwillkommenen Berührung.
Margaret Kleivens schmales Gesicht schien nur noch aus Augen zu bestehen,
Mund und Nase verschwanden im überwältigenden Eindruck von gigantischer
graublauer Iris.
»Keine Panik«, er versuchte zu lächeln. »Aber vielleicht muß ich noch zu einer
Besprechung bei... zu einer Besprechung. Steht aber noch nicht fest. Ich rufe
an. Okay?«
Margaret Kleiven gab keine Antwort. Als Evald Bromo sich zu ihr vorbeugte,
um ihr routinemäßig einen Abschiedskuß zu geben, wich sie aus. Er zuckte mit
den Schultern und murmelte etwas, das sie nicht verstand.
»Gute Besserung«, sagte sie in beleidigtem Tonfall und drehte sich weg.
Als er das Haus verlassen hatte, starrte sie ihm nach, bis sein Rücken hinter
der wildwuchernden Hecke der Nachbarn verschwand. Sie fuhr mit den
Fingern über die Vorhänge und dachte zerstreut, daß die gewaschen werden
müßten. Außerdem registrierte sie, daß der Rücken ihres Mannes mit den
Jahren schmaler geworden war.
Als Evald Bromo wußte, daß seine Frau ihn nicht mehr sehen konnte, blieb er
stehen. Die Frühlingsluft ließ einen Backenzahn aufschreien, als er mit
offenem Mund tief Luft holte.
Evald Bromos Welt würde zerstört werden. Und zwar am i. September. Ein
Frühling und ein Sommer würden noch vergehen, und der Herbst würde noch
beginnen, ehe alles vorbei wäre. Ein halbes Jahr lang sollte Evald Bromo
Schmerz und Scham und die Angst vor dem Bevorstehenden ertragen müssen.
Der Bus kam, und er schnappte einer alten Dame den Sitz weg. Was sonst
überhaupt nicht seine Art war.
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Evald Bromo war nicht bei der Arbeit. Aus alter Gewohnheit war er
ausgestiegen, als der Bus in der Akersgate zwischen Regierungsgebäude und
Kultusministerium angehalten hatte. Doch ohne auch nur einen Blick in
Richtung des fünfzig Meter weiter gelegenen Redaktionshauses zu werfen,
hatte er sich von seinen Füßen ohne Gegenwehr zum Vär-Frelsers-Friedhof
tragen lassen.
Dort war es sehr still. Vereinzelte Gymnasiasten liefen noch über die Wege, um
rechtzeitig zur ersten Stunde in der Kathedralschule zu sein. Obwohl viele
Schilder streng an den Leinenzwang erinnerten, schnüffelte ein freilaufender
Hund zwischen den Gräbern herum. Es war ein fettes schwarzes Tier, das
begeistert über alles, was es fand, mit dem Schwanz wedelte. Sein Besitzer war
sicher ein ebenso fetter Mann in einem ebenso schwarzen Mantel, der
zeitunglesend an einer Laterne lehnte.
Evald Bromo fror.
Er öffnete den Reißverschluß seiner Lederjacke und band sich den Schal auf.
Plötzlich verspürte er einen gewaltigen Hunger. Er hatte auch Durst, wenn er
es sich genauer überlegte. Er setzte sich auf eine schmutzige Bank neben
einem Grabstein, dessen Inschrift nicht mehr zu entziffern war. Dann zog er
seine Handschuhe aus, legte sie ordentlich neben sich und überzeugte sich
davon, daß ihm schrecklich kalt war und daß Hunger und Durst ihn jetzt
wirklich quälten. Er beschwor Essensbilder herauf.
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