Holt, Anne - Hanne Wilhelmsen 5
gar nichts weißt.«
»Gar nichts?« fauchte Erik und bedachte sie mit einem Seitenblick. »Sieh ihn
dir doch an, zum Teufel!«
Hanne Wilhelmsen drehte sich wieder zum Zimmer um. Sie legte den
Unterarm auf Eriks Schulter und stützte das Kinn auf ihre Hand, eine halb
vertrauliche und halb herablassende Geste. Im Zimmer war es wirklich
unerträglich warm. Es war jetzt stärker beleuchtet, die Spurensicherung
durchkämmte den großen Raum Stück für Stück. Der Leiche hatten sie sich
bisher kaum genähert.
»Alle, die nichts hier zu tun haben, müssen raus«, polterte der älteste Experte
und ließ den Taschenlampenstrahl mehrmals mit gebieterischer Geste zum
Dielenboden hinüberfegen.
»Wilhelmsen! Schaff sie alle raus, sofort!«
Sie hatte nichts dagegen. Sie hatte mehr als genug gesehen. Wenn sie den
Oberstaatsanwalt Halvorsrud dort hatte sitzen lassen, wo sie ihn gefunden
hatten, in dem aus einem Holzstück geschnitzten Stuhl, der zu klein für diesen
riesigen Mann war, dann, weil ihr nichts anderes übriggeblieben war. Der
Staatsanwalt war unansprechbar gewesen. Und ziemlich unberechenbar.
Hanne kannte die junge Anwärterin von der Kripo nicht. Sie wußte nicht, ob
die Kleine imstande wäre, sich um einen unter Schock stehenden Staatsanwalt
zu kümmern, der möglicherweise eben erst seine Frau enthauptet hatte.
Hanne Wilhelmsen selber durfte den
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Leichnam erst verlassen, wenn die Spurensicherung eingetroffen war. Erik
Henriksen schließlich hätte sich auch geweigert, mit den grotesken Überresten
der Doris Flo Halvorsrud alleingelassen zu werden.
»Na los«, sagte sie zum Staatsanwalt und reichte ihm die Hand. »Kommen
Sie, wir gehen woanders hin. Ins Schlafzimmer vielleicht.«
Der Oberstaatsanwalt reagierte nicht. Seine Augen waren leer. Der Mund
stand halboffen, und seine Mundwinkel waren feucht, als könne er sich jeden
Moment erbrechen.
»Wilhelmsen«, sagte er plötzlich mit schroffer Stimme. »Hanne Wilhelmsen.«
»Richtig«, Hanne lächelte. »Also, gehen wir?«
»Hanne«, wiederholte Halvorsrud sinnlos, blieb aber sitzen.
»Los jetzt!«
»Ich habe nichts getan. Nichts. Können Sie das verstehen?«
Hanne Wilhelmsen gab keine Antwort, sie lächelte noch einmal und nahm die
Hand, die er ihr nicht freiwillig überlassen hatte. Erst jetzt sah sie, daß auch seine Hände von geronnenem Blut verklebt waren. Im trüben Licht hatte sie
die Spuren in seinem Gesicht für Schatten oder Bartstoppeln gehalten.
Automatisch ließ sie ihn los.
»Halvorsrud!« sagte sie laut und jetzt mit schärferer Stimme. »Sie kommen
mit mir. Und zwar sofort.«
Es half, daß sie lauter geworden war. Halvorsrud zuckte zusammen und
schaute auf, als sei er plötzlich in eine unbegreifliche Wirklichkeit
zurückgekehrt. Mit steifen Bewegungen erhob er sich.
»Nimm den Fotografen mit.«
Die Anwärterin zuckte zusammen, als Hanne Wilhelmsen sie zum ersten Mal
direkt ansprach.
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»Den Fotografen«, wiederholte die Frau im Overall verständnislos.
»Ja, den Fotografen. Den mit der Kamera, weißt du. Den, der da hinten Bilder
knipst.«
Die Anwärterin schlug verlegen die Augen nieder.
»Himmel! Sicher! Den Fotografen. Alles klar.«
Es war eine Erleichterung, die Tür zu der kopflosen Leiche schließen zu
können. Die Diele war stockfinster und kühl. Hanne holte tief Luft, während
sie nach dem Schalter ihrer Taschenlampe suchte.
»Der Hobbyraum«, murmelte Halvorsrud. »Da können wir hingehen.«
Er zeigte auf eine Tür gleich links von der Haustür. Als der Lichtkegel von
Hannes Lampe seine Hände traf, erstarrte er.
»Ich habe nichts getan. Wie konnte ich nur. . . keinen Finger habe ich
gerührt.«
Hanne Wilhelmsen legte ihm ganz leicht die Hand auf den Rücken. Er
gehorchte dem leisen Druck und führte Hanne und ihren Kollegen durch den
schmalen Flur zum Hobbyraum. Als er nach der Klinke fassen wollte, kam
Erik Henriksen ihm zuvor.
»Ich mach das«, sagte er kurz und drückte sich an Halvorsrud vorbei. »So.
Stellen Sie sich hier hin.«
Der Fotograf stand in der Türöffnung, ohne daß sie sein Kommen gehört
hatten. Er schaute Hanne Wilhelmsen schweigend durch dicke Brillengläser
an.
»Haben Sie etwas dagegen, daß wir ein paar Bilder von Ihnen machen?« sagte
sie und sah den Staatsanwalt an. »Sie wissen ja nur zu gut, daß es in solchen
Fällen allerlei Vorschriften gibt. Es wäre schön, wenn wir das hier erledigen
könnten, ehe wir zur Wache fahren.«
»Zur
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