Holunderliebe
einmal an, bewegte langsam und vorsichtig den Hebel nach unten – und tatsächlich bewegte sich der Stein und hob sich um wenige Millimeter aus seiner Verankerung. Thegan hielt ihn mit dem Eisen oben, während er mit der freien Hand nach dem Stein griff und seine Fingerspitzen in den Spalt krallte. Unendlich langsam konnte er den Stein bewegen, packte ihn schließlich mit beiden Händen und rollte ihn zur Seite. Spätestens jetzt war der Adelige sich sicher, dass dieses Kloster für die Ewigkeit gebaut war: Wenn es schon so schwer war, einen einzigen Stein wieder aus seiner Verankerung zu heben, musste es unmöglich sein, das ganze Kloster zum Einsturz zu bringen.
Seine Hand zitterte nach der Anstrengung, als er die Kerze in den entstandenen Hohlraum hielt, um nach den Samen zu sehen. Doch außer Staub und ein wenig Sand, der die Fugen verschlossen halten sollte, war nichts zu erkennen. Entschlossen griff er nach dem nächsten Stein. Schon wollte er am Erfolg seiner Unternehmung zweifeln, da entdeckte er unter dem nächsten Stein eine Handvoll Samen. Voller Sand und Staub, aber unversehrt.
Er sammelte sie so sorgfältig auf, als wären es feine Goldkörner. Und in diesem Augenblick waren sie ihm wertvoller als jeder Reichtum der Welt. Behutsam legte er sie in ein kleines Tuch, das er verknotete – und machte sich dann auf den Weg zurück in Routgers Haus.
Während er durch die Pforte aus dem Kloster rannte, rief die Glocke die Mönche wieder zu ihrem Gebet zu den Vigilien. Eine ganze Nacht und ein ganzer Tag waren vergangen, seit er Bertrada zu Hemma geholt hatte. Die Kräfte seiner zierlichen Frau konnten nicht mehr sehr groß sein.
Ohne zu klopfen, stürmte Thegan in das Haus seines Schwiegervaters. Der Fischer saß immer noch an seinem Platz und sah verzweifelt auf seine großen Hände. Walahfrid rührte am Ofen in einem Becher, in dem er irgendein Gebräu bereitet hatte. Und aus dem Zimmer, in dem Hemma lag, drangen die Gerüche nach verbrannten Kräutern, mit denen Bertrada die Luft reinigen und böse Geister fernhalten wollte.
Thegan streckte Walahfrid den Beutel mit den Samen entgegen. »Ich habe wirklich noch einige gefunden. Hoffentlich reichen sie!«
Der Mönch knotete das Tuch auf, sah hinein und nickte. »Ich denke, das müsste ihr helfen. Die Wirkung meines ersten Tees lässt allmählich nach – aber ich bin voller Hoffnung, dass wir sie retten können. Lass mich ruhig hier arbeiten, du kannst zu ihr gehen.«
Ohne ein weiteres Wort drehte Thegan sich um und ging zu seiner Frau. Täuschte er sich – oder wirkte sie nicht mehr ganz so blass und kraftlos wie am Anfang der Nacht? Aber ihre Augen hielt sie immer noch geschlossen, der Atem ging flach. Bertrada saß in einem breiten Holzstuhl in der Ecke, in dem sonst Hemma häufig ihre Näharbeiten machte. Auch sie schien zu schlafen.
Er berührte sie sanft am Arm, und ihre Augen flogen auf. Einen Moment lang wirkte sie wie ein gehetztes Tier, dann erkannte sie ihn und entspannte sich wieder.
»Wie geht es ihr?«, wollte Thegan wissen.
Bertradas Blick wanderte zu Hemma. »Sie hat nicht mehr viel Kraft, aber du hast ein mutiges Mädchen geheiratet. Und der Tee von Walahfrid hat ihre Blutungen fast zum Erliegen gebracht. Ich muss ihn später fragen, was das für ein Kraut ist. Damit könnte ich so einige Leben retten … Jetzt muss ich ihr erst einmal etwas geben, das die Geburt wieder voranbringt. Ihre Wehen sind im Augenblick zu schwach, um ein Kind herauszupressen. Aber Walahfrid möchte ihr mehr von seinem geheimnisvollen Tee geben, bevor ich ihr Kräuter gebe, die ihre Wehen verstärken. Dann sehen wir weiter.« Sie lächelte ihn aufmunternd an. »Aber ich bin sehr viel besserer Hoffnung als noch vor einigen Stunden.«
Wenig später verabreichte Walahfrid Hemma einen zweiten Tee, den sie brav bis zum letzten Tropfen leerte. Als Bertrada ihr dann wie angekündigt einen Kräutertrunk gab, wurden die Wehen wieder stärker. Jetzt konnte Hemma sich nicht mehr beherrschen, und ihr Stöhnen tönte durch das ganze Haus. Routger saß mit blassem Gesicht auf seiner Bank und bewegte lautlos seine Lippen, während er ein Gebet nach dem anderen sprach.
Thegan stand an einem der winzigen Fenster und starrte nach draußen in die Nacht. Ganz allmählich wurde es heller, der Himmel verfärbte sich von einem tiefen Schwarz zu Dunkelblau. Die Sterne verblassten, und ein klarer kalter Wintertag brach an. Während die Sonne über den Horizont kroch,
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