Holunderliebe
Ecke und wirbelte kleine Schneewölkchen auf, die in die Höhe stiegen und dann wieder in sich zusammensanken. Es war Nachmittag, aber das matte Licht ließ schon wieder nach. Nicht mehr lange, und es würde wieder Nacht werden. Eine Nacht, in der die bösen Geister unterwegs waren und hoffentlich nicht seine Hemma holen würden. Thegan verbot sich alle bösen Gedanken. An diesem Tag würde er Vater werden – und vielleicht würde Walahfrids Medizin diesmal wirken. Was er wohl in den Tee getan hatte?
Hinter ihm flog mit einem dumpfen Schlag die schwere Tür auf. »Komm herein, Thegan! Es ist kalt, und ich brauche deine Hilfe«, rief Walahfrid. Drinnen nahm er ihn beiseite. »Der Tee scheint zu wirken. Aber ich fürchte, wir müssen ihr mehr von dem Wirkstoff geben, damit wir sie retten können. Das Problem ist: Ich habe nicht mehr!«
»Was war es denn?«
»Es ist die Ambrosia deines maurischen Freundes. Wir waren blind, dabei lag das Offensichtliche die ganze Zeit vor uns. Er hat dir den Samen gegeben – und genau das ist der Teil der Pflanze, den du auch verwenden solltest. Wir haben die ganze Zeit geglaubt, er hätte dir den Samen gegeben, damit du deine Arznei selbst anbauen kannst. Aber die Wahrheit ist sehr viel einfacher: Er hat dir den Samen gegeben, damit du ihn verwenden kannst. Der Tee war aus den Samen, die ich im Herbst aufgehoben habe – und siehe da, Hemma geht es besser. Doch nun braucht sie mehr davon. Womöglich kann sie die Körner sogar einfach kauen, vielleicht benötigen wir gar keinen Tee. Leider habe ich ihr den Rest meiner Samen gegeben … Hast du irgendwo noch etwas davon?«
Enttäuscht schüttelte Thegan den Kopf. »Nein. Alles, was ich hatte, war in diesem Beutel, den ich dir gegeben habe …« In diesem Moment hielt er inne. Vor seinem inneren Auge sah er, wie er seinerzeit durch eine Unachtsamkeit einen Teil der Kügelchen auf den Boden geworfen hatte, wo sie in eine Ritze an der Wand in seinem Zimmer gekullert waren. Damals war er der Meinung gewesen, dass er mehr als ausreichend von diesen Samen hätte, und hatte sich nicht die Mühe gemacht, sie aufzuheben.
»Es müssen noch ein paar in meiner Kammer sein! Ich habe sie verloren, als ich … Ach, ich erkläre es dir später!«, rief Thegan. »Warte, ich komme gleich wieder!« Damit wickelte er sich wieder fest in seinen Umhang und stürmte aus dem Haus.
Er rannte durch die engen Straßen der Klosterstadt, so schnell ihn seine Beine trugen. Erst in seinem Zimmer erlaubte er sich innezuhalten. Der Boden bestand aus großen Steinen mit schmalen Fugen dazwischen. Der Raum war sicher an die hundertmal gefegt worden, seit ihm die Samen entglitten waren. Schwer atmend ließ Thegan sich auf den Boden sinken und versuchte in die Spalten zu spähen, aber es war viel zu dunkel. Fluchend richtete er sich auf und sah sich um. Auf dem Tischchen neben seinem schmalen Bett stand eine Kerze, die er mit dem Kienspan entzündete.
Mit dem kleinen, flackernden Licht in der Hand ließ er sich wieder auf die Knie fallen und versuchte erneut in die Spalte zu sehen, wo er die Samen vermutete, aber vergeblich. Es war nichts zu erkennen.
Verzweifelt setzte Thegan sich auf und starrte in das Dunkel. Wie waren diese Steine befestigt? Er erinnerte sich, dass er erst vor wenigen Tagen an einigen Arbeitern vorbeigekommen war, die sich in einem Gang am Boden zu schaffen gemacht hatten. Dort musste es das richtige Werkzeug geben.
Ohne lange nachzudenken, machte er sich auf den Weg zu der kleinen Baustelle, die irgendwo hinter dem Scriptorium lag. Und seine Erinnerung hatte ihn nicht getrogen. Die Werkzeuge lagen achtlos in eine Ecke geworfen, der Boden war aufgerissen und wartete noch darauf, dass die Steine sorgfältig verlegt wurden. Thegan griff nach einem schmalen Stemmeisen, das ihm gut in der Hand lag. Damit sollten sich auch die Steine in seinem Zimmer heben lassen.
Wenig später kniete er in dem Raum und bemühte sich darum, einen Stein aus der Verankerung zu lösen, der genau an dem Ort lag, an dem er die Samen vermutete. Er konnte nur beten, dass ihm sein Verstand keine falschen Bilder vorgegaukelt hatte. Immer wieder rutschte das Eisen ab, während sich der Stein keinen Zentimeter bewegte. Thegan spürte, wie ihm trotz der Kälte der Schweiß über den Rücken lief. Er musste es einfach schaffen. Seine frisch angetraute Frau würde ihn sonst noch in der ersten Nacht der Ehe zum Witwer machen …
Verbissen setzte er das Stemmeisen noch
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