Holunderliebe
kannst?«
Thegan zuckte mit den Schultern. »Das Haus meines Vaters liegt in der Nähe eines Flusses, und als dritter Sohn stand ich nicht gerade im Mittelpunkt seiner Beachtung. Also habe ich mir an den sommerlichen Nachmittagen die Schwimmkunst von einem Rittmeister meines Vaters zeigen lassen. Wenn man einmal verstanden hat, wie es geht, dann ist es wie ein Spaziergang. Du denkst dabei ja auch nicht über jede Bewegung deiner Beine nach, sie kennen ihre Aufgabe.« Er zögerte einen Moment, bevor er weitersprach. »Aber das ist nicht der Grund meines Kommens. Es ist vielmehr so, dass ich über dein gestriges Angebot nachgedacht habe. Es tut mir leid, dass ich es so hochmütig abgelehnt habe. Denn ich würde gerne meine Tage nicht nur in Müßiggang und bei der Betrachtung meiner Gedanken verbringen, sondern auch meine Hände in deinen Dienst stellen.«
»Das freut mich«, meinte Walahfrid. »Auch wenn mich dein Sinneswandel etwas verwundert. Wie kommt es dazu?«
»Nun, ich lag heute Nacht wieder Stunde um Stunde wach und fand keine Ruhe vor meinen Gedanken. Ich hoffe, dass die Beschäftigung meiner Hände dafür sorgt, dass mein Geist ein wenig ruhen kann. So wie du es gestern vorgeschlagen hast.«
Ohne einen weiteren Kommentar reichte Walahfrid ihm eine Hacke. »Dann sei mir willkommen als Gast in meinem Gärtchen. Bevor ich auch nur hoffen kann, dass eines meiner Pflänzchen seine Blätter entfaltet und an Kraft gewinnt, musst du mir helfen, die Brennnesseln aus den Beeten zu entfernen. Ich habe mich letztes Jahr im Herbst nicht mit der rechten Hingabe darum gekümmert, und so muss ich jetzt ein wenig Buße tun. Es ist schön, wenn wir diese Last gemeinsam tragen können.«
Thegan schwang sich über den niedrigen Zaun, griff nach der Hacke und beugte sich über das nächstgelegene Beet. Die hellgrünen Blätter der Brennnesseln streckten sich ihm mit der geballten Energie des Frühlings entgegen. Entschlossen fuhr er mit seiner Hacke in den Boden und fing an, die flachen Wurzeln des Krauts aus dem Erdreich zu holen. Walahfrid sah ihm einen Moment zu, griff dann in seine Holzkiste und warf ihm grobe Handschuhe zu. »Du möchtest die Höllenqualen deiner Erinnerungen bestimmt nicht gegen die Qualen dieser Nesseln vertauschen. Denn ein Morgen in ihrer Gesellschaft sorgt dafür, dass deine Hände rot sind und jucken.«
Thegan nahm die angebotenen Handschuhe dankbar an und machte sich erneut ans Werk. Zum ersten Mal sah er sich dabei die Nesseln genauer an. Die regelmäßigen Zacken, die feinen Härchen auf den Blättern – auf eine Art erschienen sie ihm beinahe schön. »Du bist dir sicher, dass diese Nesseln keine Verwendung haben? Wenn sie stark genug sind, um solchen Juckreiz auszulösen, dann könnten sie doch gewiss auch eine Krankheit vertreiben?«
»Gewiss«, erwiderte Walahfrid, während er eine kräftigere Wurzel mit einem Ruck entfernte. »Die Nessel reinigt das Blut und ist ein gutes Mittel gegen Schwäche. In Notzeiten dient sie dem Volk als nährender Salat. Und wenn du ein Stück Butter oder Käse in Brennnesselblätter wickelst, dann ist es sehr viel haltbarer, als wenn du es einfach auf dem Tisch stehen lässt. Warum das so ist, weiß keiner, vielleicht verbrennt die Nessel auch die Verderbnis, die in diesen Gerichten wohnt. Deswegen ist sie durchaus eine nützliche Pflanze, bedarf allerdings keiner Pflege in einem Gärtchen, denn sie wächst überall in großer Menge. Selbst in den Zeiten großer Hungersnot findest du am Waldesrand und in den Wiesen immer ausreichend Brennnesseln. Nein, in meinem Gärtchen möchte ich die Pflanzen hegen, die ohne unsere Hilfe nur selten oder überhaupt nicht wachsen. Die Nesselpflanze hingegen nimmt den anderen Kräutern nur die Kraft und die Sonne zum Leben.«
Er warf ein weiteres großes Büschel auf den Weg zwischen den Hochbeeten, die mit Holzbrettern umfasst waren.
»Was war es denn, was dich letztes Jahr von deiner Arbeit im Garten abgehalten hat?«, fragte Thegan neugierig, während er den Pflanzen mit schnellen Bewegungen ein Ende bereitete. Für einen winzigen Moment flackerte das Bild des Sensenmannes, der über ein Schlachtfeld schreitet, vor seinem inneren Auge auf. Doch dann berührte ihn eine Nessel am Arm, und der sofort einsetzende Juckreiz unterbrach seine Gedanken wirkungsvoll. Er stellte fest, dass er Walahfrids Ausführungen wohl einen Moment lang nicht gefolgt war, und zwang sich wieder zu mehr Konzentration.
»Dieses Gedicht
Weitere Kostenlose Bücher