Holunderliebe
tauschten sie Geheimnisse aus. Die hellen Haare wagten sich vorwitzig aus dem Tuch, das sie um den Kopf gebunden hatte, und ihre Haut war so hell, als hätte sie schon lange keine Sonne mehr gesehen. Er betrachtete einen Moment lang ihre schmale Gestalt und dankte leise seinem Gott dafür, dass es so viel Schönheit in dieser Welt gab. Doch dann hob sie ihre Augen, als hätte sie seine unschicklichen Blicke bemerkt, und sah ihm direkt ins Gesicht. Ihre wasserhellen Augen lagen weit auseinander, und ihre Blicke trafen sich für einen winzigen Augenblick. Dann sahen beide zur Seite, so wie es sich gehörte, wenn man einander nicht kannte.
Thegan beobachtete, wie sie sich sofort zu ihrer Freundin hinüberbeugte und ihr etwas ins Ohr flüsterte. Und tatsächlich sah die Freundin wie beiläufig in seine Richtung. Wollte dieses schmale, helle Geschöpf etwa wissen, wer er war? Wie sollte er es nur anstellen, dieses Mädchen kennenzulernen – oder zumindest zu erfahren, ob es schon einem anderen Mann versprochen war?
Für einen Augenblick spürte auch Thegan den Aufbruch in ein neues Jahr des Wachsens und des Blühens. Seine dunklen Gedanken hatten in diesem Sonnenschein einfach keinen Platz. Doch leider fiel ihm kein Grund ein, wie er dem Mädchen noch länger hätte zusehen können, ohne dass er die Grenzen der Schicklichkeit überschritten hätte. Also lief er weiter wie geplant: hinunter zum Hafen, dann ein wenig das Seeufer entlang, bis er die Klosterstadt nicht mehr sehen konnte und nur noch das leise Plätschern des Wassers am Ufer und den Gesang der Vögel wahrnahm. Einen Moment stand er still und spürte den Frieden des Ortes, der ihn umgab wie ein schützendes Tuch. Allein das leise Pochen und Jucken seiner Narben störte ihn. Schon deswegen konnte er der Verlockung des Wassers nicht widerstehen. Wenige Augenblicke später lief er in die eisigen Fluten hinein. Er fühlte sich nur wohl, wenn er regelmäßig Wasser an seinen Körper brachte – und dabei war es ihm egal, dass die meisten Mönche es als ausreichend erachteten, wenn man an Ostern und Weihnachten seinen Körper gründlicher reinigte. Wenn Reinlichkeit denn eine Sünde war, dann wollte er sie gerne auf sich nehmen.
Er drehte sich auf den Rücken und genoss das Gefühl des klaren Wassers auf seiner nackten Haut. So lebendig fühlte er sich derzeit nur selten, und mit einem Anflug von Mitleid dachte er an Walahfrid. Er hatte ihm erst an diesem Morgen erzählt, dass die Mönche auf keinen Fall länger als unbedingt nötig im Badewasser verweilen durften. Sie könnten ja Freude dabei verspüren, und das war womöglich eine Sünde.
Der junge Adelige sah in den Himmel und verfolgte einige Vögel in ihrem Flug. Täuschte er sich, oder war da bereits eine frühe Schwalbe, die vom nahenden Sommer kündete? Mit einem Lächeln murmelte er: »Willkommen!«
Im Wasser tastete er vorsichtig die Narben an seiner Seite ab. Sie spannten sich immer noch über seine Rippen und Hüften, so als könnten sie bei einer unbedachten Bewegung aufplatzen. Walahfrid hatte ihm versichert, dass das nicht passieren werde. »Der menschliche Körper verfügt über stärkere Selbstheilungskräfte, als wir uns gemeinhin vorstellen können«, hatte er ihm erklärt, als Thegan ihm in den letzten Tagen seine diesbezüglichen Befürchtungen anvertraut hatte.
Über den Grund für seine düsteren Träume, aber auch über sein Grübeln und Zaudern, das ihn hin und wieder am helllichten Tage überfiel, hatten sie allerdings noch immer nicht gesprochen. Stattdessen hatte Walahfrid aus seiner Kindheit erzählt. Seine Eltern gehörten zum unbedeutenden Adel, der fernab des Hofes in einem einfachen Haus seinen Geschäften nachging. Schon als kleiner Junge war Walahfrid dem Kloster als Oblate übergeben worden. Während andere Kinder auch in der Klosterstadt mit Holzschwertern ihren fröhlichen Spielen nachgehen durften, wurden die Jungen, die in der Obhut des Klosters standen, dazu erzogen, immer nur den Studien und dem Wissen nachzugehen. Lautes Gelächter und übermütiges Wesen sollten diesen Kindern schnell ausgetrieben werden.
Walahfrid schien dieses Schicksal mit Gleichmut hinzunehmen. »Wie sonst hätte ich meinen Lehrer Rabanus Maurus kennenlernen können? Die Hungersnot vor zwei Jahren ging an uns Novizen fast unbemerkt vorbei. Während andere Jungen in meinem Alter nur noch Erde fressen konnten, habe ich mich in der Schreibstube mit der perfekten Schrift gequält. Das
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