Holunderliebe
sollte die Bilder beschreiben, die Wetti auf dem Sterbebett heimgesucht haben. Wetti war der Lehrer unseres Abtes, und er hat seine Visionen mit seinem besten Schüler geteilt. Der wiederum hat sie mir anvertraut und mich darum gebeten, sie in eine Versform zu gießen. Das hat doch reichlich von meiner Zeit beansprucht, muss ich sagen.«
»Auf dem Sterbebett? Was hat er da gesehen? Gibt es etwas Schlimmeres als das, was sich die Menschen im wirklichen Leben antun?«, fragte Thegan neugierig.
Ein Achselzucken war die Antwort. »Wetti wurde von einem Engel durchs Jenseits geführt. Dabei hat er Waldo, den ehemaligen Abt unseres Klosters, gesehen. Der musste seit zehn Jahren Qualen zur Reinigung seiner Seele erdulden. Wenn die Beschreibungen auch nur ein winziges bisschen von dem enthalten, was uns im Jenseits erwartet, dann möchte ich lieber noch ein wenig länger leben.«
»Aber warum? Ein Abt wird doch ein gottgefälliges Leben geführt haben?« Thegan war verwirrt.
»Es war seine Strafe dafür, dass ein befreundeter Bischof nicht ausreichend für ihn gebetet hatte. So reichte sein Leben nicht aus, um ihm einen Einzug ins Paradies zu gewähren.«
»Aber das ist doch ungerecht«, rief Thegan aus. »Es sollte doch dann vielmehr der befreundete Bischof bestraft werden!«
Walahfrid nickte, während er ungerührt weitere Brennnesseln aus dem Boden hackte. »Das ist richtig. Wetti sah Adalhelm auch jenseits des Berges der Läuterung leiden. Das sollte uns allen wohl eine Mahnung sein, die Pflichten gegenüber unseren Mitbrüdern und Freunden nicht zu vernachlässigen.«
»Schrecklich«, murmelte Thegan und wandte sich ebenfalls wieder dem Unkraut zu. »Und ungerecht obendrein. Jeder sollte wirklich nur für seine eigenen Taten und Untaten zur Rechenschaft gezogen werden, meinst du nicht?«
»Es steht mir wahrscheinlich nicht an, diese Frage zu beantworten«, meinte Walahfrid. »Aber unser Verbrüderungsbuch sieht das durchaus anders. Wenn wir für eine andere Seele beten, dann ist das die Arbeit, die wir als Mönche für andere leisten können.«
»Warum sitzt du dann nicht in der Kirche und leistest deine Gebetsarbeit?«
»Abt Erlebald ist der Meinung, dass ich besser meine Dichtkunst einsetzen sollte. Es gibt nicht allzu viele Mönche, die des Lateinischen so kundig sind wie ich.« So wie Walahfrid das erklärte, klang es nicht einmal besonders eitel.
»Woher kommt diese Begabung?«
Wieder das halbe Schulterzucken und ein Seitenblick aus dem schielenden Auge, das von einem merkwürdig hellen Grün war. »Ich denke, es ist ein Geschenk Gottes, das zusammen mit meiner Ausbildung in Fulda für eine Leichtigkeit in der Dichtkunst sorgt. Außerdem ist es an der Zeit, dass jemand die wichtigsten Heilkräuter beschreibt und ihren Einsatz auch für die weniger erfahrenen Mönche aufzeichnet. Wir wollen ja nicht, dass sie zu einem falschen Kräutlein greifen, nicht wahr?«
Ganz allmählich wurde Thegan klar, warum dieser Walahfrid so viele Sonderrechte genoss. Wenn er tatsächlich so etwas wie der Hausdichter des Abtes war, dann konnte er sich einiges herausnehmen.
Eine Zeit lang arbeiteten sie schweigend Seite an Seite. Die Sonne stieg allmählich höher am Himmel und brannte ihnen auf den Rücken. Kurz bevor sie den Zenit erreicht hatte, richtete Walahfrid sich auf und streckte sich.
»Komm, lass uns einen Augenblick lang auf dieser Bank ruhen, bevor wir nachsehen, was uns der Koch als Pulmentaria reicht. So früh im Jahr müssen wir mit Bohnenbrei rechnen.«
Gemeinsam setzten sie sich auf eine schmale Bank, die an der Wand lehnte. Walahfrid schloss genüsslich seine Augen und drehte sein Gesicht in die Sonne. »Und wenn ich die lässliche Sünde des Müßiggangs mit ein oder zwei Jahren auf dem Berg der Läuterung abdienen kann, dann wüsste ich nicht, ob ich darauf verzichten möchte«, bemerkte er lächelnd. »Diese wenigen Augenblicke vor dem Gebet zur Sext und dem Essen sind meine Schwächen, die ich in diesem Augenblick vertrauensselig mit dir teile.«
Eine Weile saßen sie schweigend da, und Thegan spürte, wie ihn die warme Sonne durchströmte und seine Gliedmaßen schwer machte. Fast hätte er sich dem Schlaf hingegeben, als der Mönch an seiner Seite unvermittelt seine Gedanken unterbrach.
»Was aber ist es, das deine Stirn beständig umwölkt? Gewiss, deine Verletzungen und Narben sind schwer und schmerzhaft – aber das allein kann nicht der Grund sein, warum du nachts wie ein Geist durch unsere
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