Holunderliebe
Routger seinen schweren Kopf auf die Arme sinken. Hemma sah ihren Vater stirnrunzelnd an. »Ich werde mir sicher nicht verbieten lassen, weiter den Vater meines Kindes zu sehen!«, erklärte sie mit fester Stimme. »Ich werde mich jetzt um die Zukunft kümmern, statt meinen Tod vorzubereiten. Ich will nicht, dass du jetzt schon um mich trauerst. Dazu hast du noch genug Zeit an meinem Grab – obwohl ich fest daran glaube, dass ich dereinst mit meinen Kindern an deinem Grab stehen werde. Aber jetzt bin ich lebendig, und es gibt keinen Grund, warum ich wie deine Irmingard enden sollte. Ich bin anders!«
Routger hob den Kopf und musterte sie einen Moment lang. »Das hat sie auch gesagt. Und doch … Es muss reichen, dass ich den Mann nicht mehr sehen will, der dich in dieses Unglück gestürzt hat. Und du sollst ihn auch nicht mehr sehen. Du bleibst jetzt bei mir hier im Haus.« Dann richtete er seinen Blick auf Thegan. »Du bist schuld an ihrem Tod, merk dir das! Wenn sie leidet, wenn sie den Himmel darum bittet, sie endlich zu erlösen – dann will ich, dass du in jeder Sekunde weißt: Es ist deine Schuld! Und jetzt scher dich zum Teufel!«
10.
M eine Glieder waren schwer wie Blei, und meine Gedanken fanden nur mühsam zurück aus dem lebhaften Traum, den ich gehabt hatte. Das Nachthemd klebte verschwitzt an meinem Rücken, meine Haare waren immer noch feucht. Langsam richtete ich mich auf und blinzelte in das Licht, das durchs Fenster hereinfiel. Es hatte aufgehört zu regnen, der Himmel war blau und mit einigen Wölkchen bedeckt. Vorsichtig ließ ich meine Füße aus dem Bett gleiten, während ich mich in dem Zimmer umsah.
Geblümte Vorhänge, gelb gestrichene Wände und dunkle Möbel – es war das Zimmer, in dem ich eingeschlafen war. Und doch fühlte ich mich, als hätte ich einen Ausflug in eine andere Welt gemacht. Warum nur war es so hell draußen? Ich hatte mich doch nur kurz hingelegt, um ein wenig zu Kräften zu kommen – und jetzt schien es, als hätte ich seit gestern Nachmittag geschlafen.
Mühsam stellte ich mich auf meine Beine. Hatte ich etwa Fieber? Mit den Fingern fuhr ich über meine immer noch feuchte Stirn. Nein, die Haut fühlte sich nicht warm an. Wenn ich nur die Erinnerungen an diesen Traum wieder loswerden würde. Es hatte sich so beängstigend angefühlt, so real, als wäre ich wirklich an der Seite dieses Adeligen durch die schlammigen Straßen von Sintlasau gelaufen. Richtig. Sintlasau. War das nicht der frühere Name der Reichenau gewesen? Hatte ich das nicht irgendwo gelesen? Ich konnte mich nicht mehr erinnern.
Schwankend ging ich zu meinen Kleidern, die ich achtlos über einen Stuhl geworfen hatte. Meine Beine fühlten sich dabei so schwach an, dass ich mich vorsichtshalber am Bett und dann am Schrank abstützte. Ich kramte mein Handy aus der Handtasche, die immer noch feucht war, und sah aufs blinkende Display. 15:23.
Es war helllichter Nachmittag, und ich hatte über zwanzig Stunden geschlafen. Mein Magen knurrte vernehmlich. Kein Wunder, die letzte Mahlzeit war ein Frühstück gewesen, das ich bei meinen Eltern vor dem Aufbruch auf die Reichenau gegessen hatte. Bis auf einen Schokoriegel, den ich bei meiner Ankunft auf der Insel zu mir genommen hatte, war mein Magen leer. Höchste Zeit, sich auf die Suche nach etwas Essbarem zu machen.
Auf wackeligen Beinen wankte ich unter die Dusche, die in einem winzigen Raum direkt neben dem Schlafzimmer untergebracht war. Das Wasser kam in einem dicken Strahl aus dem Duschkopf und war herrlich heiß. Ich fühlte mich sofort besser, als ich meine schweißverklebten Haare waschen konnte. Danach trocknete ich mich sorgfältig ab, föhnte meine Haare trocken und schlüpfte in die trockene Kleidung, die noch in meiner Tasche war. Einzig die dünnen Sommerschuhe, in denen ich gestern so gefroren hatte, waren noch feucht. Ich versprach mir selbst, mich sofort mit neuen Schuhen zu beschenken, während ich in die klammen Dinger stieg.
Als ich nach unten kam, wartete niemand auf mich, die Pension wirkte wie ausgestorben. Konnte es sein, dass die Wirtin mich einfach vergessen hatte? Oder gar nicht bemerkt hatte, dass ich fast vierundzwanzig Stunden lang mein Zimmer nicht verlassen hatte?
Ich trat vor die Tür. Statt des eiskalten Regens strich jetzt laue Frühlingsluft über mein Gesicht. Die Vögel sangen um die Wette, es roch nach frisch umgegrabenem Boden und Gras. Offensichtlich hatte ich lange genug geschlafen, um das Ende des
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