Holunderliebe
Beteuerungen, dass Erik die Nacht nicht bei mir verbracht hatte, keine Sekunde lang Glauben zu schenken. Hätte ich auch nicht bei zwei Studenten, die wahrscheinlich ständig knapp bei Kasse waren. Kopfschüttelnd drehte sie sich um und verschwand wieder aus dem Raum. Zum Glück waren keine weiteren Gäste anwesend. Ich wäre vor Scham im Boden versunken.
»Was hast du denn bisher hier getan? Und warum bist du überhaupt auf diese Insel gefahren – deine Mutter hat sich ja nur verplappert, dass du hier bist. Sonst hätte sie mir nicht einmal das verraten!« Er sah mich neugierig an, während er weiterkaute. Erik war eigentlich immer hungrig, ich konnte mich nicht erinnern, ihn jemals ohne etwas Essbares in Reichweite gesehen zu haben.
»Mir ging es nicht gut, nachdem du mich abserviert hast. Also bin ich hergefahren, um mich ein bisschen zu erholen.« Eine Ausrede. Aber ich wollte Erik nun ganz bestimmt nicht von dem alten Manuskript erzählen. Er würde darin seine Chance sehen, als Journalist ganz groß herauszukommen. Garantiert.
Mitfühlend landete seine freie Hand auf der meinen. Ich zog sie so schnell zurück, als hätte mich eine Tarantel gestochen.
»Ich habe nicht geahnt, dass dir das so nahegeht«, erklärte er. »Wir waren uns doch immer einig, dass es nichts Ernstes ist zwischen uns.«
»Du warst dir mit dir selbst einig«, korrigierte ich. »Und jetzt möchte ich wirklich allein sein.«
»Aber ehrlich: Was machst du hier? Das ist doch eine langweilige Insel für Radfahrer und Rentner!«
Ich schüttelte den Kopf. »Das ist nicht wahr. Ich habe mich gestern sehr nett mit einem Mann unterhalten, der mir genau erklärt hat, wie er seine Kräuter anbaut und wofür sie gut sind. Das war mal ein wirklich schöner Abend, ganz im Gegensatz zu den Abenden, die ich in den letzten Monaten mit dir verbracht habe!«
»Ein Mann?« Mit einem Mal wurde Erik aufmerksam. So viel zum Thema, dass wir einfach nur Freunde ohne irgendwelche Ansprüche sein sollten. »Ist er der Grund, warum du mich so schnell wieder loswerden willst? Lena, ich bin die ganze Nacht gefahren, um dir zu sagen, dass ich dich vermisse. Dass ich gemerkt habe, wie sehr du mir fehlst. Silke ist ganz bestimmt nicht die Richtige für mich, aber das ist mir erst jetzt klar geworden. Das musst du mir glauben.«
Verdattert sah ich ihn an. »Das meinst du nicht im Ernst. Das ist doch das genaue Gegenteil von dem, was du mir so ausführlich erklärt hast!«
»Das mag sein, aber dann habe ich gemerkt, dass ich dich vermisse. Du bist meine beste Freundin, ich will dich nicht verlieren!« Er sah mich bittend an.
»Das hast du aber!« Allmählich wurde ich wütend. »Du kannst nicht behaupten, dass du mehr Freiraum brauchst – und dann in der nächsten Sekunde auftauchen und mir deine ewige Freundschaft schwören. Wahrscheinlich nur, weil du gemerkt hast, dass deine Silke zwar toll im Bett ist, aber nicht zwei und zwei zusammenzählen kann. Ich möchte, dass du jetzt verschwindest!«
»Wegen diesem Kräutermann?« Er sah mich lauernd an. Offensichtlich hatte mich der Ton meiner Stimme verraten, als ich von ihm geredet hatte.
»Nein. Deinetwegen. Ich ertrage deine Art nicht mehr. Immer musst du im Mittelpunkt stehen! Das hat mit Simon Linde gar nichts zu tun!« Meine Stimme war lauter geworden, als ich beabsichtigt hatte.
»Simon heißt er also? Der legt hier doch wahrscheinlich mit seiner einfühlenden Art alle Touristinnen flach – und du fällst darauf herein. So wirst du auch nicht glücklich, Lena!« Er sah mich an. »Komm zurück nach Münster. Wir lernen zusammen für den Studienabschluss, so wie früher!«
»Als ich gelernt habe und du bei mir abgeschrieben hast?« Ich lachte. »Nein, das wird wohl eher nicht passieren. Und jetzt möchte ich, dass du gehst!«
Langsam erhob Erik sich. »So einfach wirst du mich nicht los …«
»Doch, das werde ich! Gute Heimreise!«
Ich sah ihm ungerührt zu, wie er aufstand und mit dem Rest seines Brötchens den Raum verließ. Es fühlte sich überraschend gut an. Als Erik ohne ein weiteres Wort durch die Tür stapfte, stellte ich fest, dass mein Ei und der Kaffee inzwischen kalt geworden waren. Eigentlich konnte ich genauso gut zum Kloster gehen und ernsthafter nach Spuren von Walahfrid Ausschau halten.
Ich schlüpfte in meine dünne Jacke und machte mich auf den Weg. Zu meiner Verblüffung sah ich, dass Erik noch mit der Wirtin redete, die sich gerade im Garten mit irgendetwas beschäftigte.
Weitere Kostenlose Bücher