Holunderliebe
Schmerzen gefangen gewesen, dass er nur mit halbem Ohr zugehört hatte. Jetzt verfluchte er sich für diese Unachtsamkeit, denn er konnte sich nur vage daran erinnern, dass diese Samen die Macht hatten, Blutungen zu stoppen. Aber ob bei einer Geburt oder bei den Verletzungen nach einer Schlacht – das vermochte er nicht zu sagen. Er war sich nicht einmal sicher, wie der alte Maure ihm damals sein Wissen vermittelt hatte. Sie hatten keine gemeinsame Sprache, sondern hatten sich immer nur über Gesten und Fingerzeige verständigt.
Langsam schloss Thegan seine Hand um den Schatz, den er in der Hand hielt. Zum ersten Mal seit Monaten tauchte wieder das Gesicht seines Retters vor seinem inneren Auge auf. Doch diesmal schien er nicht unter Qualen zu sterben, sondern ihm etwas Wichtiges zuzurufen. Etwas, das Thegan nicht verstand. Er musste Walahfrid um Rat fragen. Der Mönch wusste annähernd alles, was man über Pflanzen wissen konnte – und er wusste auch, wo er nachschlagen konnte, wenn sein eigenes Wissen nicht mehr reichte.
Er wollte sich schon auf den Weg machen, als er die Glocke zum Abendgebet vernahm. Heute konnte er Walahfrid nicht mehr befragen. Nach dem Abendgebet zogen sich die Mönche immer in ihren Schlafsaal zurück. Er musste sich bis zum morgigen Tag gedulden.
Mit einem kleinen Seufzer füllte er die Samen – wenn es denn welche waren – in den Beutel zurück. Dabei kullerten ein paar davon an der Öffnung vorbei, sprangen über den rauen Boden und verschwanden in einer kleinen Ritze an der Wand. Mit einem sehr unchristlichen Fluch sprang Thegan auf und versuchte die Kügelchen noch aufzuhalten. Vergebens. Sein Schatz war geschmolzen, noch bevor er überhaupt wusste, wozu er diente.
Sorgfältig verschloss er den Beutel mit den restlichen Kügelchen. Vielleicht sollte er auch zum Gebet gehen und Gott um ein wenig Beistand bitten. Vor allem, da er im Begriff war, die Gabe eines Ungläubigen zur Rettung einer Christin einzusetzen. Ob das im Gesetz der Kirche und des Klosters überhaupt zulässig war?
In dieser Nacht wurde er wieder von Albträumen gequält. Aber im Gegensatz zu früher spielten nicht Feuer und die scharfen Schwerter der Christen die Hauptrollen. Stattdessen sah er schwangere Frauen, die ihn allesamt mit düsterer Miene anflehten, doch ein Heilmittel für Evas Qualen zu finden. Eine Arznei, die den uralten Fluch endlich beenden würde. Und alles, was er ihnen reichen konnte, waren ein paar lächerliche, runzlig braune Kügelchen, über deren Wirkung er selber nichts wusste. Immer wieder erklärte er den Frauen, dass es sich vielleicht einfach nur um ein Mittel gegen tiefe Schwertwunden handelte. Ein Mittel, das gegen die Leiden der Frauen nichts ausrichten konnte. Aber sie bedrängten ihn weiter, verlangten von ihm eine Rettung vor den Qualen, die sie durchleiden mussten.
Als Thegan schweißnass aufwachte, hörte er die Glocken, die zum ersten Gebet riefen. Es war noch lange vor Sonnenaufgang, aber ihn hielt jetzt nichts mehr auf seinem schmalen Bett. Die Kammer fühlte sich stickig an, als er sich erhob und sich auf seinen vertrauten Weg zum See machte. Wenig später saß er am Ufer, lauschte auf das beruhigende Plätschern, beobachtete die Lichter der Fischer weit draußen auf dem Wasser, in dem sich der Mond spiegelte. Grillen zirpten und erfüllten die warme Luft mit der Musik des Sommers. Sternenbalsam, der unweit von ihm blühte, duftete schwer und erinnerte ihn mit seinem eigentümlichen Geruch an die Märkte der Mauren.
Ganz langsam kamen seine Gedanken wieder zur Ruhe. Der ewige Kreislauf der Natur wurde nicht unterbrochen, alles schien eine geheimnisvolle Ordnung zu haben. Er konnte und wollte daran glauben, dass sich alles zum Guten wenden würde.
Mit dieser Zuversicht, die sich für ihn wie ein Geschenk Gottes anfühlte, beobachtete er die Sonne, die sich langsam über dem Untersee erhob und alles in ein herrliches Licht tauchte. Er konnte sich von diesem Anblick nur schwer losreißen, als er sich endlich auf den Weg zurück ins Kloster machte. Er wollte Walahfrid direkt nach dem Morgengebet in seinem Gärtchen treffen und ihm endlich die Samen aus dem Land der Mauren zeigen.
14.
Gleichwohl hat doch mein Garten von dem,
was man einst ihm vertraute,
nichts ohne Hoffnung auf Wachstum untätig
im Boden verschlossen.
M isstrauisch roch Walahfrid an den runzligen Kügelchen. »Von wem hast du die bekommen?«
»Ein Medicus bei den Mauren hat sie mir in die Hand
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