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Holunderliebe

Holunderliebe

Titel: Holunderliebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katrin Tempel
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wieder einmal die schmalen, harten Pritschen des Klosters.
    Irgendwann musste ihn doch der Schlaf übermannt haben, denn er wurde unsanft geweckt, um die Vigilien einzuhalten. Schnell erhob er sich von seinem Lager und kniete nieder und pries seinen Herrn in der dunkelsten Stunde der Nacht, wie es die Regeln vorschrieben. Nun musste Walahfrid gegen den Schlaf ankämpfen. Er zwang seinen Geist zu einem ordentlichen Gebet, während der Bruder vigilans mit seiner flackernden Laterne immer wieder vorbeikam, um zu prüfen, ob er auch betete und nicht wieder eingeschlafen war.
    Es war fast schon Zeit für das Morgenlob, als sich die Schritte des Bruder vigilans mit einem Mal beschleunigten. Walahfrid sah auf und stellte fest, dass diesmal der Infirmarius mit der Laterne zu ihm getreten war. Er strahlte über das ganze Gesicht.
    »Ich wollte es dir sofort sagen, deswegen habe ich dem Bruder vigilans freiwillig die Lampe abgenommen! Dein Tee hat gewirkt, Sigibold ist von neuem Leben erfüllt. Er bat um eine heiße Suppe, kannst du dir das vorstellen?«
    »Suppe? Vor wenigen Stunden wollte er noch sterben!«, rief Walahfrid aus. »Bist du dir sicher, dass es sich nicht um die letzten Phantasien eines Sterbenden handelt?«
    »Ja, ganz sicher. Ich kenne Sigibold doch schon eine Ewigkeit! Sein Bruder hat vor vielen Jahren meine jüngere Schwester geehelicht. Er wirkt wieder ganz wie er selbst!«
    Die Verwandtschaft erklärte, warum der Bruder so sehr am Wohlergehen seines Patienten interessiert war. Aber nicht, warum Sigibold wirklich überlebt hatte. Lag es womöglich wirklich an dem maurischen Tee? Stirnrunzelnd erhob sich Walahfrid und lächelte den Bruder an. »Das liegt bestimmt nur an deinem Können! Mein bescheidener Beitrag hat Sigibolds Genesung nur beschleunigt.«
    Geschmeichelt nickte der Mönch. »Ich habe auch den Verband so versetzt, wie du es angeraten hast.«
    Das mochte erklären, warum die Blutung zum Stillstand gekommen war. Es bestand also immer noch die Möglichkeit, dass das Kraut völlig wirkungslos war. Noch bevor Walahfrid weiter darüber nachdenken konnte, rief die Glocke zum Morgenlob. Gemeinsam machten die Mönche sich wieder auf den Weg, um den neuen Tag mit Gesang zu begrüßen.
    In diesen Stunden in der Kirche war Walahfrid am ehesten von Glück erfüllt und fühlte sich seinem Gott ganz nah. Für ihn gab es neben der lateinischen Sprache nur wenige Dinge, die ihn so erfüllten wie der Gesang so vieler Männer in der Dunkelheit, bis ganz langsam das erste Tageslicht durch die Fenster kroch.
    Später berichtete er Thegan von dem zweifelhaften Erfolg des Tees. »Es kann sein, dass dein maurisches Kraut Sigibold das Leben gerettet hat. Genauso wahrscheinlich erscheint mir allerdings, dass der Bruder Infirmarius mit der Versetzung der festen Binde endlich das Richtige getan hat und die starke Natur des Bruders sich durchsetzen konnte. Kurz: wir wissen nicht, ob dein Kraut wirklich ein Lebenselixier ist, eine Ambrosia, wie es bei den alten Griechen hieß, oder nur ein schwaches Kräutlein ohne großen Nutzen.«
    »Ich bin mir sicher, dass es sich noch als wirksam erweisen wird«, erklärte Thegan. »Es kann nicht sein, dass mir dieser Mann ein wirkungsloses Mittel in die Hand gegeben hat.«
    »Möge dein Wort von Gottes Ohr erhört werden«, murmelte Walahfrid.
    »Bestimmt«, meinte Thegan und bemühte sich um ein zuversichtliches Lächeln. Er verbot sich einfach den Gedanken an ein Scheitern der Medizin.
    Um sich abzulenken, sah er sich neugierig um. »Wo steckt denn dein Freund Gottschalk?«, fragte er. »Ich habe ihn schon einige Tage nicht mehr gesehen, ist er nicht mehr auf der Sintlasau?«
    »Leider nein«, antwortete Walahfrid. »Er muss bald nach Mainz, um auf der Synode in seiner Sache gehört zu werden. Er möchte sich vorher der Unterstützung seiner Familie versichern. Offenbar hat er guten Grund, darauf zu vertrauen, dass auch seine Familie seine Mitgift für das Kloster zurückfordern wird. Das würde ihn doch sehr stärken, denke ich.«
    »Wird er zurückkommen? Ich würde ihn wirklich vermissen«, erklärte Thegan. »Er bringt einen in der Tat auf neue Gedanken.«
    »Dabei ist es noch nicht gesagt, dass seine jetzigen Gedanken die letzten sind, mit denen er die Christenheit überrascht«, murmelte Walahfrid. »Hin und wieder fürchte ich, dass wir noch einiges von ihm hören werden. Er hat angedeutet, dass er sich mit der Lehre der Vorherbestimmung, wie sie Augustinus vertritt, noch

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