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Holunderliebe

Holunderliebe

Titel: Holunderliebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katrin Tempel
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Insel war im Besitz des geheimen Wissens über Ambrosia?
    Widerstrebend riss ich mich vom Anblick des kahlen Beetes los. Hier konnte ich nichts finden, keine Frage. Langsam verließ ich das Gärtchen und machte einen letzten Rundgang über das alte Klostergelände. Erst traute ich meinen Augen nicht, als mir in der Kirche ein Mönch mit wehender Kutte entgegenkam. War ich etwa schon wieder in einem meiner Träume gefangen? Ich musste so entsetzt gewirkt haben, dass der Geistliche auf mich zutrat und mich stützend am Oberarm packte.
    »Ist Ihnen nicht gut? Kann ich etwas für Sie tun?« Seine Stimme klang melodisch und hatte einen leichten badischen Einschlag. Eindeutig keine Gestalt aus meinen Träumen.
    Ich schüttelte den Kopf. »Nein, alles ist gut. Wahrscheinlich war ich nur überrascht, dass überhaupt noch ein Mönch auf der Reichenau lebt. Meine feste Überzeugung war, dass das Kloster schon vor langer Zeit geschlossen wurde.«
    »Damit haben Sie auch recht«, antwortete er lächelnd. »Es gibt keine durchgehende Tradition von Mönchen hier auf der Insel. Aber ich bemühe mich gemeinsam mit zwei Mitbrüdern darum, diese Tradition wieder aufleben zu lassen. Es wird Zeit, dass eines der größten und wichtigsten Klöster des Mittelalters wieder von Gebeten erfüllt wird.«
    »Aber …« Ich sah mich suchend um. »Verzeihen Sie meine Frage, aber wo wohnen Sie denn? Zumindest hier im Kloster scheint es keine passenden Wohnräume zu geben, oder?«
    »Warum sollten wir auch in alten Steinen wohnen und auf den Komfort einer Zentralheizung verzichten? Wir wollen beten und den Herrn preisen – aber nicht unbedingt uns selber geißeln. Dafür gibt es andere Orden als den der Benediktiner. Wir leben zur Miete. Wenig aufregend, ich weiß. Aber das 21. Jahrhundert eignet sich auch nicht so recht zum Klosterleben des Mittelalters. Um ehrlich zu sein: Die Vigilien um zwei Uhr nachts locken mich auch nicht gerade. Aber wahrscheinlich ist das eine Schwäche in meiner Seele, an der ich dringend arbeiten müsste.«
    Damit nickte er mir zum Abschied noch einmal zu und verschwand in einem nahe gelegenen Gang. Langsam drehte ich mich um und machte mich auf den Heimweg. Keine Geheimnisse auf dieser Insel, die sich mir offenbarten. Nur wilde Träume und ein paar Mönche, die am Wiederaufleben einer alten Tradition arbeiteten.
    Ich kam am Friedhof vorbei, der mir schon am ersten Tag meines Besuchs aufgefallen war. Um meinen Abschied noch einmal hinauszuzögern – ein Impuls, den ich mir selber nicht erklären konnte –, ging ich ein wenig zwischen den Grabsteinen umher. An der steinernen Mauer fand sich das Familiengrab der Lindes. Ein großer verwitterter Stein, in dem ganz unten die Namen von Simons Eltern eingemeißelt waren. Hanna und Peter Linde. Mit einem identischen Todesdatum, das vierundzwanzig Jahre zurücklag. Unwillkürlich rechnete ich nach. An diesem Tag war ich gerade zwei Wochen alt gewesen. Wie merkwürdig, diese Nähe von Geburt und Tod. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt friedlich in meiner Wiege gelegen, mit meinen Händchen gespielt und wahrscheinlich hin und wieder kräftig gebrüllt. Und für diese Menschen war das Leben beendet gewesen. Simon war an diesem Tag schon sieben Jahre gewesen. An diesem Tag im April hatte sich sein Leben für immer verändert …
    Ein weiterer Blick auf das Datum ließ mich stutzen. Ich griff nach meinem Handy und sah nach, was der Kalender für den heutigen Tag ankündigte. Und tatsächlich: Auf den Tag genau war dieses Unglück vierundzwanzig Jahre her.
    Erst jetzt bemerkte ich, dass das komplette Grab mit Kräutern bepflanzt war. Lavendelbüsche, Rosmarinbäumchen, Lorbeer und Verbenen drängten sich aneinander. Eine passende letzte Ruhestätte für Teehändler und Kräutergärtner. Wahrscheinlich wurde dieser Ort liebevoll von Simon gepflegt. Und wenn ich mich noch länger hier aufhielt, dann würde er sicher kommen, um seiner Eltern an ihrem Todestag zu gedenken.
    Der Rückweg zum Ausgang führte mich wieder an dem kahlen Holunder vorbei, der mir schon beim ersten Mal aufgefallen war. Sacht fuhr ich über seine bastartige Rinde, die unter meinen Fingern abblätterte. Es wurde Zeit, dass jemand dieses tote Gehölz entfernte. Hier gab es keine Chance mehr auf ein neues Leben. Alle anderen Pflanzen hatten in den letzten Tagen ihre kleinen Blätter entfaltet. Nur dieser Holunder hier weigerte sich beharrlich. Nachdenklich zerbröselte ich ein wenig Rinde zwischen den

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