Holundermond
stammt von dem italienischen Maler Andrea Cavaliere Celesti und wurde nach dem zweiten Überfall der Türken und Wiederaufbau der Kirche im Jahre 1690 in Auftrag gegeben.« Holzer rasselte die Daten gelangweilt wie ein Fremdenführer herunter. »Selbstverständlich kenne ich den goldenen Kelch, den der blaue Bischof dort in den Händen hält, und auch die Dame, die ihre abgeschnittenen Brüste auf einem Silbertablett spazieren trägt, ist mir nicht fremd.« Ungehalten zog Holzer die Augenbrauen zusammen.
Jan nickte. Holzer spielte die Rolle des Ahnungslosen gut, aber nicht gut genug. Er deutete in die obere linke Ecke des Bildes. »Sehen Sie den Engel dort? Vermutlich wissen Sie auch, dass dieser Engel eine Kopie ist. Das Original des Engels hängt in der Votivkirche. Oder sollte ich besser sagen: Es hing dort, bis es gestohlen wurde?«
Holzer schwieg.
»Drei Diebstähle in drei Wochen! Drei wertvolle Gegenstände, die alle drei auf diesem Gemälde verewigt worden sind. Wir können davon ausgehen, dass es sich bei den gestohlenen Objekten um ehemalige Schätze dieses Klosters handelt. Oder sehen Sie das etwa anders?«
»Es gibt in den Kirchen in und um Wien unzählige goldene und silberne Kelche, Schalen und dergleichen. Wir Katholiken pflegen mit diesen Gerätschaften die heilige Kommunion zu zelebrieren. Möglicherweise ist Ihnen dasentgangen. Ich bin nicht bereit, die Zeit der Polizei mit diesem Blödsinn zu verschwenden!«
Jan zuckte mit den Schultern. Im Grunde hatte er mit dieser Reaktion Holzers gerechnet. Blieb nur die Frage, welche Rolle sein Kollege bei der ganzen Sache spielte? Er würde ihm den Gefallen tun und sich von ihm durchs Kloster führen lassen. Flavios Vater hatte sicher nichts dagegen, wenn er seine Untersuchungen zu einem späteren Zeitpunkt ohne Holzer fortsetzte.
Jan fügte seinem Büchlein eine weitere Notiz hinzu und wandte sich wieder an den Kollegen. »Sie wollten mir etwas zeigen?«
Holzer nickte. »Kommen Sie! Sie werden begeistert sein!« Dann ging er ihm voraus zu einer Tür, die im hinteren Seitentrakt der Kirche verborgen lag. Es dauerte eine Weile, bis der Wiener Historiker den richtigen Schlüssel an seinem dicken Schlüsselbund gefunden hatte. »Bitte nach Ihnen.« Er trat zur Seite und winkte Jan an sich vorbei. Hinter der Tür lag ein kleiner fensterloser Raum, in dessen Mitte eine steile Wendeltreppe auf eine weitere Ebene führte. Vorsichtig erklomm Jan Stufe für Stufe. Holzer folgte ihm. Oben angekommen konnte Jan im Halbdunkel nur verschwommen die Umrisse einer weiteren Tür erkennen. Er drückte die Klinke herunter und öffnete sie.
Geblendet schloss er die Augen. Als er sich an die plötzliche Helligkeit gewöhnt hatte, schaute er sich staunend um. Vor ihm erstreckte sich ein riesiger Speicher direktunter dem hohen Dach der Klosterkirche. Den Boden bildeten grobe Holzplanken, die keine geschlossene Fläche ergaben, sondern im Abstand von einem halben Meter verlegt worden waren. Darunter war ein weiterer Speicher zu erkennen. Eine tödliche Falle, wenn man einen der Balken verfehlte.
Jan hielt sich an einem Sparren fest und sog den Geruch des Holzes in sich auf. Wie viele Zimmermänner mochten vor Hunderten von Jahren hier herumgeklettert sein, um unter Einsatz ihres Lebens dieses gigantische Dach zu errichten? Durch wie viele Hände waren die Ziegel gereicht worden, bis sie hier oben zum Liegen gekommen waren?
Er griff zum nächsten Stützpfeiler und hangelte sich vorwärts. Holzer war dicht hinter ihm.
»Wir befinden uns jetzt genau über der Sakristei.«
»Es ist unglaublich. Man meint, der Wienerwald dürfte nicht mehr existieren, wenn man das viele Holz sieht, das hier verbaut wurde.«
»Ich dachte mir, dass Sie das interessieren würde. Leider wurde der Speicher komplett leer aufgefunden. Wir gehen davon aus, dass er seit dem letzten Türkenüberfall auf das Kloster nicht mehr benutzt worden ist.«
»Der letzte Überfall war vor rund 325 Jahren. Seitdem steht der Speicher leer?«
Wieder war Jan sich nicht sicher, ob er Holzer glauben sollte. Andererseits, hätte es auch um den Speicher ein Geheimnis gegeben, dann hätte Holzer diesen Raum mitSicherheit weiter unter Verschluss gehalten. Er setzte einen Fuß auf den nächsten Balken und bemühte sich, nicht in die Tiefe zu schauen.
»Richtig, der Speicher steht seit 325 Jahren leer. Ungefähr genauso lange hat ihn niemand betreten … und so schnell wird das auch niemand mehr tun.«
Jan fuhr herum.
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