Holundermond
wollte. Da traf ihn ein Fuß in die Seite. Stöhnend rollte er sich auf den Bauch und sah aus den Augenwinkeln das kleine schwarze Buch neben sich, das ihn fast das Leben gekostet hatte. Schnell schob er es unter sein Hemd. Irgendwo musste er es verstecken. Holzer durfte es nicht bei ihm finden.
Unter stechenden Schmerzen kam er auf die Knie, stützte sich auf seine Arme und drückte den Oberkörper nach oben. Sofort wurde ihm schlecht. Sein Mageninhalt drängte nach draußen und er spuckte Holzer das Frühstückvor die Füße. Erschöpft sank er in sich zusammen. Wie tief war er gefallen? Drei Meter? Vier? In seinem Kopf drehte sich alles.
»Kommen Sie, ich helfe Ihnen.« Zwei erstaunlich starke Arme griffen unter seine Schultern und zogen ihn hoch. Da entdeckte Jan eine Nische neben sich in der Wand. Augenblicklich ließ er sich wieder fallen und stöhnte laut auf. Holzer wich einen Schritt zurück und Jan nutzte die Gelegenheit, um das Notizbuch blitzschnell in der kleinen Öffnung verschwinden zu lassen. Er betete, dass Holzer diese Bewegung entgangen war.
»Nehmen Sie sich zusammen, Mann!« Holzer zerrte ihn wieder hoch und diesmal hielt er ihn fest. Jan schwankte. Aber er stand, wenn auch nur mit Hilfe des Mannes, der ihn eben noch erschießen wollte.
»Können Sie laufen?« Holzer schob ihn ein Stückchen vorwärts. Jans Beine fühlten sich an wie Gummi, aber er schien sich nichts gebrochen zu haben. Er nickte. Zum Sprechen fehlte ihm die Kraft. Er hatte Angst, sich noch einmal übergeben zu müssen, wenn er jetzt etwas sagte. Mit Holzers Unterstützung setzte er einen Fuß vor den anderen.
»Gleich dahinten ist eine der restaurierten Mönchszellen, da können Sie sich erst einmal hinlegen.« Holzer zeigte den Gang hinunter und schob ihn weiter. Zur linken Seite des Ganges waren große Fenster in die Mauern eingelassen, die den Blick auf den Klostergarten freigaben. »Dort arbeitet niemand mehr«, sagte Holzer, »die Gärtnerkommen nur früh am Morgen, wenn es noch nicht so heiß ist. Wir sind also vollkommen ungestört.«
Jan wandte den Kopf ab, er wollte nicht, dass Holzer die Enttäuschung auf seinem Gesicht sah.
Auf der rechten Seite des Ganges befanden sich die Türen zu den Zellen der Mönche. Immer wieder hielt Jan an, um zu verschnaufen. Bei jedem Atemzug hatte er das Gefühl, innerlich zu zerreißen.
Verflucht noch mal, hatte er nicht selbst zu Viviane gesagt, die Sache sei gefährlich? Jetzt wurde auch noch Nele in die ganze Geschichte mit hineingezogen. Lilli würde ihn umbringen, wenn Holzer das nicht vorher für sie erledigte. Er hätte Nele nach Hause bringen müssen, sofort nachdem er sie im Auto entdeckt hatte. Bei dem Gedanken an die Gefahr, in die er seine Tochter gebracht hatte, wurde Jan sofort wieder schlecht.
»Los, kommen Sie! Wir haben schon lange genug herumgetrödelt!«
Holzer stieß ihn unsanft vorwärts. Jan stöhnte und schloss die Augen. Wenn nur dieses Dröhnen in seinem Kopf aufhören würde. Er konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. Noch nie in seinem Leben hatte er sich so hilflos gefühlt.
Endlich blieb Holzer vor einer der Türen stehen. Er zog einen weiteren Schlüssel aus seiner Jackentasche und schloss auf.
An der Wand stand ein Bett. Immerhin. Jan hätte nie geglaubt, dass er einmal so dankbar für ein einfaches Holzbrettsein würde, denn eine Matratze gab es nicht. Am Fußende lag zusammengefaltet eine alte Decke. Außer dem Bett befand sich nur noch ein Nachtschränkchen in der Zelle. Es gab auch ein kleines Fenster, vergittert und so hoch, dass man nicht hinausschauen konnte. In den hereinfallenden Sonnenstrahlen tanzte der Staub.
Was hat Holzer vor?, schoss es Jan durch den Kopf. Hat er das Notizbuch an sich genommen? Oder liegt es noch in der kleinen Nische? Selbst wenn Holzer das Buch inzwischen hatte, würde er ihn jetzt einfach so gehen lassen? Jan brach der kalte Angstschweiß aus.
»Geben Sie mir Ihr Handy!« Holzer streckte ihm fordernd die rechte Hand entgegen.
»Mein Handy? Was wollen Sie denn …?« Jan starrte auf die Stelle, an der eigentlich Holzers Ringfinger hätte sitzen müssen. Unwillkürlich fiel ihm eine Legende ein, die sich um das Altarbild rankte. In ihr ging es um einen Ring … Er versuchte, sich genau zu erinnern, aber die pochenden Schmerzen in seinem Kopf verhinderten jeden vernünftigen Gedanken.
»Sie sollten jetzt langsam mit mir zusammenarbeiten, Jan Wagner.« Holzer sprach leise. »Sonst muss ich doch noch ein
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