Holundermond
»Was soll das heißen?« Er sah Holzer an, der triumphierend einen Schlüssel in den Händen hielt und die restlichen Schlüssel wieder in seine Jackentasche steckte.
»Ich hatte Sie gewarnt.« Holzer senkte die Stimme. »Sie hätten nicht herkommen dürfen. Diese Geschichte geht Sie überhaupt nichts an. Aber Sie wollten ja nicht auf mich hören.«
»Wollen Sie mir drohen?«
»Spätestens nach Ihrem kleinen Unfall hätten Sie wieder umkehren sollen.« Holzer verzog keine Miene.
»Der Unfall? Das waren Sie?«, stieß Jan hervor und drehte sich auf dem schmalen Balken in Holzers Richtung. »Verdammt noch mal, ich hatte meine Tochter im Auto!«
Der Wiener Historiker zuckte mit den Schultern. »Es hat Sie niemand darum gebeten, ein Kind mitzubringen. So was nenne ich Berufsrisiko.« Er griff in die Innentasche seiner Jacke. »Und jetzt geben Sie mir Ihr Notizbuch!« Ganz langsam zog Holzer die Hand wieder aus der Jacke und richtete den Lauf eines Revolvers auf Jan.
Neles Vater erstarrte. Für einen kurzen Augenblick glaubte er, alles sei nur ein böser Traum und er müssegleich daraus erwachen. Aber die Waffe in Holzers Hand war bittere Realität.
Ihm wurde schlecht vor Angst. Langsam tastete er sich auf dem Balken wieder rückwärts. Reden, dachte er, versuch, mit ihm zu reden. Er ist ein angesehener Historiker in Wien. Egal, was ihn antreibt, er wird doch nicht alles aufs Spiel setzen wollen. »Was, wenn ich es Ihnen nicht geben will?«, wandte er sich an Holzer. »Wollen Sie mich dann erschießen?« Seine Worte klangen hohl und fremd. Erschießen. Niemals zuvor hatte er dieses Wort benutzt. »Wie wollen Sie das der Polizei erklären? Selbst wenn dieser Speicher von niemandem betreten wird, alle wissen doch, dass ich heute mit Ihnen in der Kartause verabredet war. Früher oder später wird man mich finden. Wollen Sie wirklich ihre Karriere aufs Spiel setzen?« Die Furcht breitete sich wie ein dickflüssiger Leim in seinem Körper aus. Seine Füße gehorchten ihm kaum noch und seine Zunge klebte an seinem Gaumen. Schritt für Schritt wich er vor Holzer zurück. Aus den Augenwinkeln sah er eine der Dachluken. Wenn er sie doch nur erreichen könnte.
Holzer folgte seinem Blick. »Vergessen Sie es. Noch bevor Sie ihren Kopf da rausstrecken können, sind Sie ein toter Mann. Geben Sie auf. Und rücken Sie endlich Ihr Notizbuch heraus. Dann wird Ihnen und Ihrer Tochter nichts passieren. Das verspreche ich Ihnen.«
Jan knirschte mit den Zähnen. Er glaubte dem Historiker nicht. Selbst wenn er ihm das Notizbuch aushändigte, würde der ihn niemals ungeschoren davonkommen lassen.Seine Knie fingen an zu zittern, als ihm klar wurde, dass er in der Falle saß. Jan blickte nach unten. Es gab nur eine Lösung. Er musste schneller als sein Widersacher sein. Für einen kurzen Moment schloss er die Augen. Verdammt, reiß dich zusammen. Denk an Nele. Er griff in die Tasche seiner ausgebeulten Cordhose und zog das Notizbuch heraus.
»Hier.« Er hielt es Holzer hin. Jetzt nur keinen Fehler machen. »Sie können es haben. Aber versprechen Sie mir, dass sie mich und meine Tochter dann in Ruhe lassen.«
»Für wie dumm halten Sie mich?« Holzer kniff die Augen zusammen und deutete mit dem Pistolenlauf in die Tiefe. »Glauben Sie wirklich, Sie können sich mit mir anlegen? Bringen Sie mir das Buch her.« Langsam richtete er seine Waffe auf Jan. »Sofort!«
Jan zögerte. Wie weit würde Holzer gehen? Würde er ihn tatsächlich erschießen, um an seine Notizen zu kommen?
Seine Zunge klebte am Gaumen, langsam ging er auf seinen Kollegen zu. Er wagte kaum zu atmen. Er war Wissenschaftler und kein Kämpfer. Als er Holzer fast erreicht hatte, blieb er stehen und streckte ihm das Notizbuch entgegen.
Für einen kurzen Augenblick flackerte Gier in Holzers Blick auf, aber dann nahmen seine Augen wieder einen kalten und unbeteiligten Ausdruck an. Jan machte noch einen weiteren Schritt. Holzer griff mit der freien linken Hand nach dem Buch.
Jetzt. Jan duckte sich und warf sich mit voller Wucht gegen seinen Widersacher. Ein Schuss löste sich. Jan rutschte aus, fiel auf die Knie, wollte sich an einem Balken festhalten – und verlor das Gleichgewicht. Dann stürzte er in die Tiefe.
8
»Sie sind ein Narr.«
Nur langsam sickerte die Stimme in sein Bewusstsein.
Jan wollte sich nicht bewegen. Jeder Knochen tat ihm weh. Aber er lebte.
»Los, stehen Sie auf!«
Er versuchte, die Augen zu öffnen. Sein Kopf fühlte sich an, als ob er platzen
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