Holundermond
Blick auf und zwinkerte ihr zu. Zu ihrem Ärger bemerkte Nele, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Hoffentlich hatte Flavio das nicht gesehen. Flavio? Wo steckte der überhaupt?Nele schaute sich um. Die Menschen hinter ihr drängten immer dichter an sie heran, aber von Flavio war weit und breit nichts zu sehen. Hatte er nicht gemerkt, dass sie stehen geblieben war? Sie drehte sich um und versuchte, sich einen Weg durch die Menge zu bahnen.
Sie hatte sich erst ein kleines Stück vorwärtsgekämpft, als durch das Gedränge ein Mann auf sie zugestürzt kam. »Feuer! Feuer! Seht ihr die Flammen? Tod und Teufel werden über euch kommen! Tod und Teufel! Ihr werdet alle in der Hölle schmoren. Elende Verdammnis denen, die Gott nicht fürchten und seine Elemente nicht ehren!«
Entsetzt wich Nele zurück. Ein beißender Geruch stieg ihr in die Nase. Der Mann hatte lange fettige Haare, die ihm wirr ins Gesicht hingen. Er trug eine Mönchskutte, die mehrfach geflickt worden war.
»Sie haben den Ring gestohlen und den goldenen Kelch. Sie haben Gott bestohlen. Tod und Verdammnis über die, die sein Haus zerstört haben. Es brennt! Feuer! Feuer!«, spuckte er ihr die Worte ins Gesicht.
»Nein!«, stammelte sie. »Nein! Geh weg!« Sie hob die Arme schützend vor ihren Körper und taumelte nach hinten. Wo war Flavio nur? Sie wollte nur weg hier.
»Flavio! Flavio, wo bist du?« Ganz klein und piepsig war ihre Stimme, und Nele spürte, wie ihr die Tränen in die Augen schossen.
»Nele? Nele, hier bin ich!«
Flavio. Er griff nach ihrer Hand und zog sie hinter sich her – weg von der Menschenansammlung und dem Verrückten.Erst als sie den Rand des Marktes erreicht hatten, blieb er stehen.
»Alles in Ordnung?« Flavio klang besorgt.
»Wo warst du denn plötzlich?« Nele schämte sich, dass sie so viel Angst gehabt hatte. Verstohlen wischte sie sich mit dem Handrücken über die Augen.
»Ich war nur einen Stand weiter, als ich gemerkt habe, dass du nicht mehr hinter mir warst. Und da habe ich die Gaukler gesehen, aber ich bin durch die ganzen Zuschauer abgedrängt worden.«
»Wer war dieser Verrückte?«
»Ach, das ist einer von den Obdachlosen.
Un vagabondo
. Sicher schläft er irgendwo unter einer Brücke und spinnt sich im Suff allerlei zusammen. Wenn die Spielleute auf dem Markt sind, dann taucht er auch manchmal hier auf. Wahrscheinlich ärgert er sich über ihre fröhlichen Lieder.« Flavio zuckte mit den Schultern.
»Es war gruselig.« Nele schauderte es immer noch. »Was meinte er wohl damit, dass sie Gott bestohlen hätten?«
»Keine Ahnung. Mach dir keine Gedanken. Ich sag dir doch, der spukt hier schon ewig rum und ist nicht ganz richtig im Kopf.«
Nele nahm sich vor, Jan am Abend von dem verrückten Mönch zu erzählen und ihn zu fragen, was es mit den Elementen, dem Ring und dem Kelch auf sich hatte.
Flavio zog sie schon wieder weiter. Langsam taten Nele die Füße weh. Außerdem war sie durstig von dem ganzen süßen und salzigen Zeug, das Flavio ihr in den Mundgesteckt hatte. Sie schaute sich um und entdeckte unter einem großen grünen Schirm einen Marktstand, der Säfte anbot. Ganze Berge von Orangen, Ananas, Kiwis, Mangos, Papayas, Bananen und anderen exotischen Früchten türmten sich darauf.
»Komm, lass uns etwas trinken«, schlug Nele vor und zeigte auf die frisch gepressten Säfte in großen gläsernen Karaffen.
Flavio nickte. »
Scusi
«, sagte er zu dem Mann, der ihnen den Rücken zuwandte und Obst auf einem Holztisch zerschnitt. »Bitte zwei Gläser. Für mich Orangensaft. Was möchtest du?« Fragend sah er Nele an.
»Für mich Mango und …«
In diesem Moment drehte sich der Verkäufer um und schaute Nele mit seinen schwarzen Augen durchdringend an. »Darf ich der jungen Dame eine Spezialmischung empfehlen?« Seine Stimme war tief und dunkel, wie auch sein Äußeres. Er war in einen langen schwarzen Kaftan gehüllt und auf dem Kopf trug er einen schwarzen Turban.
Fasziniert starrte Nele auf das lange Messer in seiner Hand. Rote Flüssigkeit tropfte daran herunter.
Der Mann folgte ihrem Blick. »Blutorange«, sagte er und wischte das Messer an einem Tuch ab, das in seinem Gürtel steckte. »Mango und Blutorange, etwas Besseres findest du in ganz Wien nicht.« Der Händler füllte ihnen den Saft aus den großen Karaffen in zwei Gläser. »Seid meine Gäste«, sagte er bestimmt, als Nele nach ihrem Geldbeutel griff.
»
Grazie
.« Flavio nahm gierig eines der Gläser entgegen und leerte es
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