Holundermond
will wissen, was der Kerl vorhat.« Mit entschlossener Miene ging Flavio auf die große schwere Kirchentür zu und öffnete sie. EineGruppe Japaner drängte sich an ihm vorbei nach draußen, und Nele nutzte die Gelegenheit, zu ihm zu laufen, ehe er im Inneren der Kirche verschwand.
»Hier!« raunte Flavio ihr zu.
Sie verbargen sich hinter einem dicken Wollvorhang, der den Vorraum vom Kirchenschiff abtrennte. Nachdem ihre Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, schob Nele den schweren Stoff ein wenig zur Seite und ließ den Blick über die leeren Bänke wandern.
»Er ist nicht hier«, flüsterte sie Flavio zu.
»Er muss hier sein!« Flavio trat in den Mittelgang der Kirche und schaute sich um. Nele drückte sich enger an ihn.
Sie rechnete jeden Moment damit, dass Holzer vor ihnen auftauchte und sie zur Rede stellte. Was sollten sie ihm dann sagen? Dass sie ganz zufällig genau die Kirche besichtigten, in der er sich gerade aufhielt? In Wien gab es unzählige Kirchen. An einen solchen Zufall würde Holzer ganz sicher nicht glauben.
Zielstrebig durchquerte Flavio den Mittelgang und blickte suchend nach rechts und links. An der Seite flackerten einige Kerzen, eine alte Frau kniete vor der Mutter Gottes und betete.
Weiter vorne saßen vereinzelt Besucher in den langen Bankreihen und betrachteten die Bilder an den Wänden oder suchten ein wenig Ruhe vor der Hektik der Großstadt.
Von Holzer fehlte jedoch jede Spur.
Plötzlich schob Flavio Nele seitlich zwischen die Bankreihen und zeigte nach rechts. Nele folgte seinem Blick und dann sah sie ihn.
Holzer stand mit dem Rücken zu ihnen in einer kleinen Nische zu Füßen eines riesigen Engels, der auf einem Sockel über unzähligen brennenden Kerzen thronte und in der rechten Hand ein goldenes Schwert hielt. Darin spiegelte sich flackernd der Schein der Kerzen.
»Was tut der da?«, fragte Flavio.
»Bleib hier«, zischte Nele ihm zu, »oder willst du erwischt werden?«
Da drehte Holzer sich um. Erschrocken presste sich Nele die Hand auf den Mund und ließ sich neben Flavio auf den Fußboden fallen.
»Pst! Hier kann er uns nicht sehen«, wisperte Flavio, nachdem Holzer ihnen wieder den Rücken zugewandt hatte.
Neles Herz schlug so heftig, dass sie kaum Luft bekam.
Flavio kroch ein Stückchen unter der Bank hervor. »Das gibt’s doch nicht. Er hat dem Engel das Schwert aus der Hand genommen!«
Nele wünschte sich, Flavio würde endlich still sein. Sie rechnete immer noch jeden Moment damit, Holzer würde sie entdecken.
»Vielleicht untersucht er es nur«, wisperte sie. »Er ist ja Historiker.« Sie wollte gar nicht so genau wissen, was Holzer da trieb. Im Moment wollte sie nur aus dieser Kirche raus und möglichst viel Abstand zwischen sich und den Historiker bringen.
»Jetzt macht er ein Foto von dem Schwert.« Flavio ließ Holzer nicht aus den Augen. »Wozu soll das gut sein?«
»Ich weiß nicht, wozu das gut sein soll.« Erschrocken hielt sich Nele die Hand vor den Mund. Ihre Stimme hatte viel lauter geklungen als gedacht. Schnell kroch sie noch ein Stückchen tiefer unter die Bank. »Es interessiert mich auch nicht. Bitte. Lass uns hier verschwinden.«
Flavio legte den Finger auf seine Lippen. »Pst! Er kommt.«
Nele hielt die Luft an. Vom Boden aus konnte sie Holzers Beine sehen. Er lief so dicht an ihr vorbei, dass sie nur die Hand hätte ausstrecken müssen, um ihn zu berühren. Wieder ließ seine Nähe sie frösteln. Sie schloss die Augen in der unsinnigen Hoffnung, dass er sie nicht sehen könnte, wenn sie ihn nicht sah.
»Du kannst die Augen wieder aufmachen, er ist weg.« Flavio krabbelte unter der Bank hervor und richtete sich auf. »Ich guck mir mal eben den Engel an.«
»Warte!« Sie wollte Flavio festhalten, aber er war schon zu der kleinen Seitenkapelle gegangen. Wie zuvor Holzer schaute er sich nach allen Seiten um, bevor er nach dem goldenen Schwert griff.
Nachdem sich Nele noch einmal vergewissert hatte, dass Holzer tatsächlich nicht mehr in der Kirche war, kroch auch sie aus ihrem Versteck und huschte in die kleine Kapelle.
»Schau mal!« Flavio hielt das Schwert mit beiden Händen in die Höhe. »Es sieht aus wie eine Flamme.«
»Ein Flammenschwert. Einer der Erzengel, die das Tor zum Paradies bewachen, hat ein Flammenschwert.«
Tod und Verdammnis. Plötzlich musste Nele wieder an den Mönch denken, der so aufgebracht auf die Spielleute reagiert hatte. Tod und Verdammnis zogen sich fast durch das ganze Alte
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