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Holundermond

Holundermond

Titel: Holundermond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Wilke
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restauriert, deshalb müssen wir schauen, ob wir überhaupt eine finden, die ich dir zeigen kann.« Flavio war ganz in seinem Element. Wie ein Fremdenführer lotste er Nele durch die langen Gänge zum Speisesaal der Mönche, von dem Nele wusste, dass man ihn Refektorium nannte. Er zeigte ihr, wo früher die Bibliothek untergebracht war, erzählte ihr von dem unschätzbaren Wert der alten Bücher, die hier in einer Feuersbrunst vernichtet worden waren. Je länger Nele ihm zuhörte, desto mehr fühlte sie sich zurückversetzt in die Zeit der Mönche und in deren Welt der Stille und Einsamkeit. Der Überfall der Türken auf das Kloster und der verheerende Brand, der damit einhergegangen war, musste für die so abgeschieden lebenden Männer eine furchtbare Erfahrung gewesen sein. Nele staunte, als Flavio ihr berichtete, wie groß der Schaden nach dem zweiten Überfallgewesen war und wie lange es gedauert hatte, bis das Kloster in seiner alten Form wieder aufgebaut worden war.
    »Und dann wurden die Mönche von hier vertrieben?« Nele erinnerte sich, dass Jan ein Lazarett erwähnt hatte, das vor vielen Jahren im Kloster untergebracht worden war.
    Flavio nickte und zeigte auf ein Gemälde zu ihrer Linken. »Siehst du den Mann dort? Das ist Joseph der Zweite, der Sohn von Maria Theresia.«
    Nele betrachtete den blassen Mann. Von der Kaiserin Maria Theresia hatte sie schon gehört. Aber was hatte deren Sohn mit dem Kloster zu tun? Fragend schaute sie Flavio an.
    »Joseph der Zweite wollte immer nur Gutes für sein Land. Deshalb drängte er auf Verbesserungen.« Vor einem der großen Fenster blieb Flavio stehen.
    Nele folgte seinem Blick und sah einen kleinen alten Friedhof. Einige wenige verwitterte Grabsteine standen krumm und schief im dicken Moos, schmiedeeiserne Kreuze waren von Efeu berankt. Eine freche Amsel saß auf einem der Steine, und für einen kurzen Moment war es Nele, als habe der Vogel ihr zugeblinzelt.
    Flavio zeigte auf den Friedhof. »Joseph fand es zum Beispiel eine Verschwendung, jeden Toten in einem eigenen Sarg zu beerdigen. Die Särge vermoderten nur und das Holz hätte doch viel sinnvoller verwendet werden können. Deshalb erfand er den Sparsarg.« Einen Sparsarg? Noch bevor Nele fragen konnte, was das sein sollte, fuhrFlavio fort: »Er hat einfach per Gesetz befohlen, dass zukünftig nur noch Särge verwendet werden dürften mit einem klappbaren Boden. Die Särge wurden auf die offene Grube gestellt, durch einen Hebelzug öffnete sich der Boden und der Tote plumpste ins Grab.« Nele schüttelte es bei der Vorstellung. »Das war irre praktisch, denn so konnte der Sarg auch noch für andere Toten verwendet werden.«
    »Ich weiß nicht«, murmelte Nele.
    »Keine Angst, die Regelung wurde bald wieder abgeschafft. Die Angehörigen der Toten haben sich zu sehr über dieses Gesetz aufgeregt.«
    »Aber was haben diese merkwürdigen Sparmaßnahmen jetzt mit dem Kloster zu tun?« Nele wandte sich vom Fenster ab und ging weiter zum nächsten Raum. Es gab noch so viel zu sehen, und sie hatte immer noch nicht den Hauch einer Ahnung, was Jan hier suchte.
    »Du musst dir vorstellen, dass die Menschen früher oft viele Stunden, ja manchmal sogar Tage unterwegs waren, um zu einer Klosterkirche zu gelangen und einem Gottesdienst beizuwohnen.« Flavio öffnete eine unscheinbare Tür und deutete eine leichte Verbeugung an. »Nach Ihnen, bitte. Treten Sie ein und fühlen Sie sich wie zu Hause!«
    Dieser Spinner. Nele kicherte. Immer wieder gelang es Flavio, sie zum Lachen zu bringen.
    Sie schlüpfte an ihm vorbei und blieb mit angehaltenem Atem stehen. Vor ihr erstreckte sich der Innenraum einer riesigen Kirche.
    »Das ist Wahnsinn«, flüsterte Nele.
    »Das ist die Klosterkirche.« Auch Flavio hatte seine Stimme gesenkt. »Hierher kamen die Menschen aus den umliegenden Dörfern, wenn sie eine heilige Messe besuchen wollten. Joseph gefiel es nicht, dass sie so weite Strecken zurücklegen mussten.« Langsam schritt Flavio durch den Seitengang auf die Mitte der Kirche zu. Nele folgte ihm und konnte ihren Blick nicht von den Wänden lassen. Niemals hätte sie nach den leeren, kargen Räumen, durch die sie vorher gegangen waren, eine so reich geschmückte Kirche erwartet.
    Sie legte den Kopf in den Nacken und schaute nach oben zu der gewölbten Decke. In den vielen ovalen Ornamenten, die diese schmückten, befanden sich wunderschöne Gemälde, reich mit Gold verziert, die biblische Geschichten erzählten wie Bilderbücher.

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