Holundermond
Nele versuchte sich vorzustellen, was die einfachen Leute, die so viele Entbehrungen auf sich hatten nehmen müssen, um in diese Kirche zu gelangen, wohl gedacht hatten beim Anblick dieser Farben und dieses Reichtums.
Es war schade, dass Jan nicht bei ihnen war. Er wusste so viel über Kirchenmalerei. So oft hatte sie mit Lilli seinen Erzählungen gelauscht. Nele spürte einen Stich bei der Erinnerung an diese gemeinsamen Stunden. Nie wieder würden sie so zu dritt zusammen sein. Nie wieder würde Jan nach einer Reise bei ihr und Lilli am Küchentisch mit strahlenden Augen von den Schätzen berichten, die er gefunden hatte. Keiner von ihnen würde je wieder andiesem Küchentisch sitzen, denn für die neue Wohnung war er viel zu groß. Der Schmerz, den sie so erfolgreich verdrängt hatte, suchte sich wieder seinen Platz in ihrem Hals. Sie schluckte und schluckte, aber es half nichts. Sie schaute zu Flavio, der auf dem Fußboden der Kirche hockte und interessiert die Steinplatten betrachtete.
»Was machst du da?«, fragte sie mit fester Stimme. Flavio sollte nicht merken, wie traurig sie war.
»Ich habe etwas entdeckt. Schau mal!« Er wies auf eine der Steinplatten, und beim Näherkommen bemerkte Nele ein Kreuz, das in diese Platte eingraviert war.
»Das kenne ich gar nicht. Auf dem Gang lag immer ein Teppich. Kann sein, dass der entfernt wurde, um ihn reinigen zu lassen. Jedenfalls konnte man das Kreuz früher nicht sehen. Was es wohl zu bedeuten hat?« Flavio fuhr mit den Fingern die Linien im Fußboden nach, als ob sie ihm so ihr Geheimnis verraten würden.
»Vielleicht ist hier ein Schatz vergraben.« Nele setzte ein Grinsen auf. Jan hätte mit Sicherheit gewusst, welche Bedeutung dem Kreuz im Fußboden zukam.
»Ach was, einen Schatz hätten die längst gefunden bei ihren Arbeiten. Vielleicht hat es gar keine große Bedeutung und diente nur als Ausgangspunkt für irgendwelche Vermessungen.« Flavio stand wieder auf. »Aber du wolltest wissen, wie aus dem Kloster ein Seuchenhaus wurde.«
Nele nickte. Sie war so überwältigt von der Größe und Schönheit der Kirche, dass sie diese Frage ganz vergessen hatte. »Du hast gesagt, dass die Menschen einen weitenWeg zurücklegen mussten, um an einem Gottesdienst teilzunehmen.« Sie versuchte, die Gedanken an Jan und Lilli zu verdrängen.
»Ja, und das gefiel unserem Joseph gar nicht. Und weil er sowieso glaubte, dass es den Mönchen in den Klöstern viel zu gut ging, dass sie hinter ihren dicken Mauern nur faul herumsaßen und übermäßig viel Alkohol tranken, befahl er, die Klöster aufzulösen.«
»Er befahl einfach, sie aufzulösen?« Nele starrte Flavio an. Bisher war ein Kloster für sie etwas Unantastbares gewesen, etwas, das seinen eigenen Gesetzen gehorchte und mit der Welt, die sich außerhalb seiner Mauern befand, nichts zu tun hatte. Nie hätte sie gedacht, dass man so einfach befehlen konnte, ein Kloster zu schließen. Auch nicht als Kaiser.
»Ja, Joseph der Zweite sorgte dafür, dass alle Klöster in seinem Land, die keine Krankenstation oder Schule betrieben, geschlossen wurden. Die Kartause Mauerbach gehörte dazu. Die Mönche mussten das Kloster verlassen, und die wertvollen Besitztümer, das Gold, die Statuen, die Bilder und auch die Bücher wurden auf die umliegenden Dörfer verteilt und sollten dazu dienen, kleine Dorfkirchen einzurichten, damit jeder Bürger eine Kirche in seiner Nähe hatte, die er zukünftig aufsuchen konnte.« Flavio holte Luft.
»Und die Mönche? Wo sind die dann hin?« Irgendwie taten Nele die Männer leid, die ihr Leben hier verbracht hatten und dann vor die Tür gesetzt worden waren.
»Die hatten drei Möglichkeiten.« Flavio legte den Kopf in den Nacken und betrachtete die Decke. »Sie konnten entweder in ein anderes Kartäuserkloster im Ausland gehen. Oder einem anderen Orden beitreten, einem, der eben Krankenpflege betrieb oder eine Schule hatte. Oder sie mussten wieder normale Bürgerliche werden.«
»Oje, das war aber bestimmt nicht leicht.« Niemand wusste besser als sie, wie schrecklich es sich anfühlte, wenn einem plötzlich der Boden unter den Füßen weggezogen wurde.
Flavio zuckte mit den Schultern. »Mag sein, aber das Klostergebäude wurde auch dringend gebraucht. Nach seiner Schließung wurde es zum Armen- und Seuchenhaus der Stadt Wien ernannt und innerhalb kürzester Zeit drängten sich hier über 800 Menschen!«
»So viele?«, staunte Nele.
»Ja, so viele. Arme, Obdachlose, Kranke, Kinder, die
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