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Holundermond

Holundermond

Titel: Holundermond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Wilke
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ihre Eltern verloren hatten, Alte, die keiner haben wollte, Krüppel, Geisteskranke, Sterbende. Alle wurden hier zusammengepfercht und notdürftig versorgt.«
    »Kinder auch?« Nele schauderte es bei der Vorstellung, inmitten von Alten, Sterbenden und schwer kranken Menschen leben zu müssen.
    »Ja, Kinder auch. Aber die meisten wurden auch krank und sind dann gestorben.«
    Nele schämte sich, dass sie ihr Schicksal eben noch mit dem der Menschen aus diesem Kloster verglichen hatte. »Woher weißt du das alles?«
    Flavio lächelte. »Du vergisst, wer mein Geschichtslehrer ist.«
    Holzer. Nele blieb stehen. Den hatte sie total vergessen. Und fast hätte sie auch vergessen, warum sie hier waren. Wo war Jan? Sie zog ihr Handy aus dem Rucksack und versuchte noch einmal, ihn anzurufen. Wieder nichts. Sein Telefon war und blieb stumm.
    Sie spürte, wie ihre Sorge um Jan einem neuen Gefühl wich. Wut. Sie war wütend auf ihn. Sie wusste, wie wichtig ihm seine Arbeit war und dass er nur sehr ungern dabei gestört wurde. Aber er hatte ihr versprochen, für sie erreichbar zu sein. Warum hatte er sein Versprechen nicht gehalten? Wollte er ihr einen Denkzettel verpassen, weil sie als blinder Passagier mit nach Wien gefahren war?
    Nele spürte, wie die Wut die Trauer in ihr verdrängte.
    »
Mamma mia
!« Flavios Ruf riss sie aus ihren Gedanken. »Komm mal her, schnell!«

12
    »Ich war hier bestimmt schon hundert Mal!«, rief Flavio, »aber die war immer verschlossen.« Er stand hinter dem Altar in einer kleinen Nische und deutete auf eine offene Tür. Sie war neueren Datums und mit einem modernen Schloss versehen, das einen Knauf anstelle einer Klinke hatte.
    Nele runzelte die Stirn. »Dahinter ist es aber ziemlich finster. Möchtest du da wirklich rein?« Eigentlich wollte sie nur noch zurück in die Pension. Vielleicht saß Jan schon längst bei Viviane in der Küche und wartete auf sie.
    »Und ob ich das will! So eine Gelegenheit kommt vielleicht nicht wieder. Bestimmt waren Holzer und dein Vater hier und haben vergessen, die Tür abzuschließen.« Flavio schlüpfte durch den Spalt und Nele folgte ihm. Sie standen in einem kleinen düsteren Raum, aus dem lediglich eine schmale Wendeltreppe führte. Langsam fing Flavioan, die Stufen nach oben zu steigen. Nele blieb so dicht wie möglich hinter ihm. Ihr war nicht ganz geheuer in diesem engen Treppenhaus, so ganz ohne Fenster, da ließ das Geräusch einer zufallenden Tür sie herumfahren.
    »Oh nein!« Sie lief gefolgt von Flavio wieder nach unten und zog am Türknauf. Nichts. Die Tür war verschlossen. »Wie sollen wir jetzt hier rauskommen?« Panik stieg in ihr hoch. Sie konnte kaum die Hand vor Augen sehen, so dunkel war es nun in dem kleinen Raum.
    Flavio legte ihr beschwichtigend eine Hand auf die Schulter. »Los, wir schauen erst mal, wo die Treppe hinführt.« Zwei Stufen auf einmal nehmend rannte er wieder nach oben. Nele musste sich anstrengen, um mit ihm Schritt halten zu können, als Flavio mit einem Mal abrupt stehen blieb.
    »Was ist los?« Nele keuchte und schnappte nach Luft.
    »Hier ist noch eine Tür.« Flavio drückte die Klinke herunter. »Und die ist auch nicht abgeschlossen.«
    »Nun geh schon, ich will wissen, was dahinter ist«, drängte Nele.
    Flavio stieß die Tür auf und blieb wie vom Donner gerührt stehen.
    »Was ist?« Nele fühlte eine unerklärliche Angst in sich aufsteigen. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und warf einen Blick über Flavios Schulter. Erschrocken riss sie die Augen auf. Noch nie hatte sie so einen großen Dachstuhl gesehen. Riesige Balken, die sich quer über das Kirchenschiff spannten. Darunter Stützpfeiler und Verstrebungen,wieder Balken, auf denen lose Bretter auflagen. Auf einem solchen Brett stand Flavio und tastete sich langsam vorwärts.
    Erschrocken hielt Nele die Luft an, als Flavio sich zu ihr umdrehte. »Komm!«
    Nele zögerte. »Aber da geht es doch gar nicht weiter!« Ihre Knie wurden schon weich, wenn sie nur daran dachte, sich mehr als eine Armlänge vom schützenden Türrahmen zu entfernen.
    »Na los!« Flavio streckte ihr auffordernd eine Hand entgegen. »Irgendeinen Weg hier raus werden wir schon finden.«
    Nele seufzte, schloss die Augen und fasste in die Hosentasche. Ihr Glücksstein, er war noch da. Sie atmete einmal tief durch, dann zog sie die Hand aus der Tasche und öffnete die Augen. Ganz langsam hob sie einen Fuß und setzte ihn vor sich auf das schwankende Brett. Na bitte, es geht doch. Vorsichtig

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