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Holundermond

Holundermond

Titel: Holundermond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Wilke
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er nicht. Der schläft noch tief und fest. Und später muss er sich erst um sein Café kümmern. Für heute Mittag ist eine ganze Busladung Rentner angekündigt, die eine Wanderung durch den Wienerwald macht.« Flavio ging zur Tür. »Los!«
    Nele seufzte. Was hatte sie schon zu verlieren? Auch sie brannte darauf, das Altarbild noch einmal bei Tageslicht zu sehen und endlich herauszufinden, was Jans Markierungen auf dem Foto zu bedeuten hatten.
    Sie betraten das Kloster auf dem gleichen Weg wie zuvor in der Nacht. Wieder musste Nele schlucken, als sie auf dem Friedhof stand, allerdings wirkte er in den frühen Morgenstunden lange nicht mehr so Furcht einflößend. Sie beeilten sich, ins Innere des Klosters zu kommen, schließlich wussten sie nicht, ob nicht doch irgendwelche Gärtner oder Handwerker hier auftauchen würden. Und sie wollten auf gar keinen Fall entdeckt werden.
    In der Kirche zauberte die Morgensonne fröhliche Spiralmuster auf den Fußboden. Nele dachte an die Erzählungen Flavios und versuchte sich vorzustellen, wie es hier wohl vor 250 Jahren ausgesehen haben mochte. Langsam ging sie auf das Altarbild zu und zog die Fotografie des Bildes aus ihrer Tasche.
    Dann legte sie den Kopf in den Nacken und betrachtete das Gemälde. Eine Darstellung aller Heiligen, hatte Viviane erzählt. Ein paar kannte Nele von den Erzählungen ihres Vaters.
    Rechts war ein Mann mit mehreren Pfeilen im Körper abgebildet. Das musste der heilige Sebastian sein, der von Bogenschützen erschossen werden sollte, die Todesstrafe jedoch wie durch ein Wunder überlebte. Erst nach seiner zweiten Gefangennahme wurde er in einer römischen Arena mit Keulen erschlagen.
    Nele begann, Flavio die Details des Altarbildes zu erklären, so wie sie es von Jan gelernt hatte. Sie kannte die Bedeutung der Farben, verstand ein wenig von den Perspektiven und Flavio lauschte ihr mit offenem Mund.
    »Der dort, der mit dem schönen roten Gewand und dem Feuerrost in der Hand, das muss der heilige Laurentius sein. Er wurde auf glühenden Kohlen verbrannt, weil er die Kirchenschätze den Armen schenkte. Und da«, Nele zeigte nach links, »die weiße Frau dort, die trägt ihre Brüste auf einem Silbertablett.« Sie schaute zu Flavio, dessen Augen immer größer wurden. Genauso musste sie aussehen, wenn Jan ihr irgendetwas erklärte. »Agatha musste sterben, weil sie sich als Christin einem heidnischen Stadthalter verweigerte.«
    »Nur Gräueltaten und Tote«, murmelte Flavio, »und so was hängt in einer Kirche.«
    Nele hielt den Blick auf die heilige Agatha gerichtet und verglich die Abbildung mit dem Foto. Langsam fuhr sie mit dem Finger von einer Markierung zur nächsten, bevor sie wieder auf das Altarbild schaute.
    »Was ist?«, fragte Flavio.
    »Guck mal hier!« Sie hielt ihm das Foto unter die Nase und deutete auf die Stellen, die Jan markiert hatte. »Das Tablett der Heiligen Agatha, Jan hat das eingekreist und da«, Nele zeigte nach links, »ein Flammenschwert. Der Engel muss der Erzengel Michael sein. Und dort«, ihre Hand fuhr nach rechts, »siehst du den goldenen Kelch, den der Papst hält?« Flavio folgte ihrem Blick und nickte. »Und dann ist da noch dieser andere Engel.«
    »Ein Engel, ein Tablett und ein Kelch«, murmelte sie.
    »Und das Schwert«, ergänzte Flavio. »Die vier Gegenstände.«
    Nele wagte kaum zu atmen. Alle vier Sachen waren auf dem Altarbild zu sehen. Das konnte kein Zufall sein.
    Irgendjemand stahl diese Dinge. Aber warum? Und was würde passieren, wenn er auch den vierten Gegenstand an sich gebracht hatte?
    Mit klopfendem Herzen ließ Nele ihren Blick weiter über das Gemälde schweifen. Vielleicht gelang es ihnen, dem Bild noch mehr Geheimnisse zu entlocken. Plötzlich hielt sie inne. »Flavio!« Sie stieß ihn an. »Da. Die Augen! Sie starren uns an!«
    Flavio schaute in die Richtung, in die Nele wies, und richtig, mitten in das Bild, vollkommen ohne Körper oder Gesicht, waren zwei Augen gemalt. Flavio lachte unsicher. »Nicht schlecht gemacht. Für so einen alten Schinken ist das ein guter Trick.«
    Nele drückte sich enger an Flavio. Die frei schwebenden Augen auf dem Gemälde schienen jede ihrer Bewegungen zu verfolgen. »Es sieht aus, als ob sie uns beobachten.«
    »Blödsinn. Da hat sich dieser Celesti einfach einen Scherz erlaubt.«
    Nele fröstelte. Sie glaubte nicht, dass es sich hier nur um einen kleinen Spaß des Künstlers handelte. Sie versuchte, sich aus dem Bann der Augen zu lösen, aber immer wieder

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