Holundermond
wurde ihr Blick von ihnen angezogen.
Flavio trat einen Schritt auf das Gemälde zu und berührte es mit den Fingern.
»Flavio!« Mit einem Satz war Nele bei ihm. Ihr Herz raste.
»He, alles okay!« Flavio setzte ein breites Grinsen auf. »Mich würde ja schon interessieren, warum Johanna hier einfach rein- und rausspazieren kann und ich nicht.«
»Hast du vergessen, dass der Zauber der Farben nur in der Nacht wirkt?« Nele atmete tief ein. Ihr Herz schlug ihr immer noch bis zum Hals. Sie zwang sich zur Ruhe und schaute wieder auf das Bild. Wenn ich nur wüsste, wonach ich suchen muss, dachte sie. Sie erkannte noch einige andere Figuren: die Mutter Gottes, Gott selbst, Jesus und den Heiligen Geist, dargestellt durch eine Taube. Mit einigen anderen konnte sie allerdings nichts anfangen. Von ihrem Vater wusste sie, dass oft auch bekannte Personen der Kirchengeschichte abgebildet worden waren: Päpste, Bischöfe, Kardinäle. Sie forschte in den Gesichtern der dargestellten Männer nach einem Hinweis, einem Schlüssel zu dem Geheimnis des magischen Bildes.
Plötzlich griff eine Hand nach ihrem Herzen. Eine Hand, kälter als Eis. Mit aufgerissenen Augen starrte Nele auf das Bild, kaum noch zu einem vernünftigen Gedanken fähig. Flavio folgte ihrem Blick. »Da soll mich doch der Teufel holen«, murmelte er. »Wenn das nicht mein über alles geliebter Geschichtslehrer ist.«
»Holzer«, flüsterte Nele kaum hörbar. Wie konnte das sein? Wie konnte ein Portrait des Historikers auf dieses Altarbild kommen?
Flavio kniff die Augen zusammen und trat einen Schritt zurück. »Nele!« Flavio zeigte auf die Gruppe von Frauen, die sich um die heilige Agatha scharte.
»Das kann nicht sein«, sagte sie heiser. »Das ist doch gar nicht möglich. Das Bild …«
Da riss Flavio sie zu Boden und presste ihr die Hand auf den Mund. »Psst. Hier ist jemand«, wisperte er.
Nele schloss die Augen. Jetzt hörte sie es auch. Jemand war in der Kirche. Bitte lass es nicht Holzer sein, schoss es ihr durch den Kopf. Sie hielt die Luft an und lauschte gebannt den Schritten, die unaufhaltsam näher kamen und laut von den Wänden widerhallten. Dann wurde es mit einem Mal still und kurz darauf entfernten sich die Schritte wieder.
Nele atmete erleichtert aus, als das Hauptportal mit einem lauten Krachen ins Schloss fiel.
»Nichts wie weg hier!« Flavio griff nach Neles Hand und zog sie zu der kleinen Seitentür. »Das war Holzer. Ganz sicher, ich habe ihn an seinem Gang erkannt.«
Nele schaute immer wieder über die Schulter zurück, als könnte Holzer jeden Moment wie ein Geist hinter ihnen auftauchen.
»Los, beeil dich!«, zischte Flavio ihr zu.
Es waren nur noch wenige Meter bis zur Tür nach draußen, da nahm Nele aus dem Augenwinkel einen Schatten wahr. »Flavio!«
»Verdammt!« Flavio drückte sich an die Wand und zog Nele neben sich.
Holzer kam den Gang entlang, direkt auf sie zu. Noch hatte er sie nicht bemerkt, aber es gab kein Entkommen.
Flavio gab Nele einen Schubs. »Lauf! Ich lenke ihn ab!«
Entsetzt starrte Nele erst zu Flavio, dann zu Holzer, der sie jetzt gesehen hatte und wie angewurzelt stehen blieb.
»Lauf, Nele!«
Nele stürzte auf die Tür zu, während Flavio in die andere Richtung losrannte.
»Verdammtes Pack!«, hörte Nele hinter sich Holzer fluchen, doch dann hatte sie die Tür erreicht, riss sie auf und stürmte nach draußen.
Schwer atmend blieb sie stehen und überlegte, was sie tun sollte. Sie konnte Flavio unmöglich im Stich lassen. Fieberhaft dachte sie nach, da fiel ihr Blick auf den alten Grabstein direkt vor ihren Füßen. Eine Amsel saß darauf und schaute sie aus dunklen Augen aufmerksam an.
Später konnte Nele nicht mehr sagen, was sie dazu gebracht hatte, die Inschrift zu lesen. Ihre Augen folgten den verwitterten Buchstaben, versuchten, die Linien unter dem Moos zu verstehen. Aber ihr Verstand weigerte sich zu begreifen, was sie dort sah.
23
Flavio hörte die Tür ins Schloss fallen. Nele hatte es geschafft, sie war in Sicherheit. Er schaute über die Schulter zurück zu Holzer. Sein Geschichtslehrer war schnell, schneller, als er erwartet hatte. Aber nicht schnell genug. Außerdem kannte Flavio die Kartause wie seine Westentasche. Es gab keinen Winkel, den er im Lauf der Jahre noch nicht erforscht hatte. Flavio sprintete um die nächste Ecke und stürmte an den Türen der Mönchszellen entlang. Holzer fiel immer weiter zurück.
»Bleib stehen, verdammt. Oder du wirst deines Lebens nicht
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