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Holundermond

Holundermond

Titel: Holundermond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Wilke
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er überhaupt ein Auge zumachen konnte, aber sein Körper war erschöpft vom Hunger und fehlenden Schlaf.
    Er schloss die Augen und versuchte, das Pochen in seinem Gesicht zu ignorieren.
    Irgendwann musste er doch eingenickt sein, denn als er das Geräusch des Schlüssels in der Tür hörte, fuhr er aus einem wirren Traum hoch.
    »Genug geschlafen! Aufstehen! Und zwar ein bisschen plötzlich!« Holzer packte ihn am Arm.
    Jan bewegte seinen Kopf zur Seite und stöhnte auf. »Langsam, Herr Kollege, warum so eilig?«
    »Los, wird’s bald?«
    Jan richtete sich auf der Pritsche auf, was sofort mit weiteren Kopfschmerzen bestraft wurde. Er schloss für einen Moment die Augen, und als er sie wieder öffnete, blickte er in die Mündung des Revolvers.
    »Ich sagte, aufstehen und mitkommen. Muss ich noch deutlicher werden?«
    Was hatte Holzer jetzt schon wieder vor? Nur mühsam erhob sich Jan. In seinem Kopf arbeitete es fieberhaft. Wollte Holzer ihn erschießen, konnte er das auch gleich hier in der Zelle erledigen.
    Er spürte den Druck der Waffe in seinem Rücken.
    »Los, schneller! Zum Seiteneingang!«
    Im Inneren der Kirche empfing sie schon fast vollkommene Dunkelheit. Nur vor dem Altar flackerte eine Kerze. Jan wollte innehalten und verschnaufen, sein Schädel dröhnte bei jedem Schritt. Doch Holzer trieb ihn weiter durch den Gang auf den Altar zu.
    Vor den breiten Steinstufen blieben sie stehen und Jan warf einen Blick auf das Gemälde, das er so oft studiert hatte und von dem er inzwischen jedes Detail kannte.
    Hinter ihm ertönte ein raues Lachen. »Ja, schauen Sie es sich noch einmal an. Es wird vermutlich das letzte Mal sein, dass Sie es zu Gesicht bekommen.«
    Jan fröstelte. Holzer konnte ihn unmöglich hier mitten in der Kirche erschießen.
    Oder doch? Unauffällig ließ er seinen Blick auf der Suche nach einer geeigneten Waffe durch den Altarraum schweifen. Der Kerzenständer, schoss es ihm durch den Kopf. Doch im selben Moment erschien ihm die Idee geradezu lächerlich, angesichts des Revolvers in seinem Rücken.
    »So – genug jetzt! Los, hoch mit Ihnen!« Holzer stieß ihn die Stufen zum Altarraum hinauf.
    Jan überlegte fieberhaft. Die Gedanken in seinem Kopf überschlugen sich. Er durfte jetzt nicht sterben. »Bitte, können wir nicht wie zwei vernünftige Menschen miteinander reden?« Doch er spürte, dass jeder Versuch zum Scheitern verurteilt war, seinen Kollegen zu stoppen. Holzer sagte kein Wort. Als Jan schon mit der Nase an dem Gemälde stand, traf ihn die Erkenntnis wie ein Blitz. Er drehte sich zu Holzer um. »Das können Sie doch nicht machen!«, keuchte er heiser. »Genauso gut können Sie mich gleich umbringen. Man wird mich vermissen! Und wenn man mich nicht findet, wird man zuerst Sie in Verdacht haben, denn schließlich wissen eine Menge Leute, dass wir zusammenarbeiten sollten.« Rede. Hör nicht auf zu reden. Rede weiter. Lass dir etwas einfallen, irgendetwas, das den Wahnsinnigen aufhalten kann.
    Aber Holzer hörte ihm gar nicht zu. Mit der rechten Hand drückte er Jan den Revolver auf die Brust, mit der linken packte er ihn an der Schulter.
    »Warten Sie! Lassen Sie mich Ihnen ein Angebot …« In dem Moment versetzte Holzer ihm einen kräftigen Stoß, Jan verlor das Gleichgewicht und fiel – in ein tiefes Loch.
    Bestialischer Gestank schlug ihm entgegen. Als seine Augen sich an die neuerliche Dunkelheit gewöhnt hatten, sah er, dass er immer noch in der Kirche stand, genau vor dem Altarbild.
    Aber die Kirche war nicht leer, wie noch vor wenigen Sekunden. Hunderte von Menschen lagen zu seinen Füßen auf dem Boden. Eng nebeneinander. Kranke, Sterbende, Tote. Wo bin ich hier? Er fuhr sich mit dem Handrücken über die schweißnasse Stirn. Oder besser gesagt: In welcher Zeit befinde ich mich?
    Holzer gab ihm keine Gelegenheit, über diese Frage nachzudenken. Er drängte ihn von den Stufen runter und bugsierte ihn um das Gemälde herum zu dem kleinen Raum hinter dem Altar. Mühsam erklomm Jan Stufe um Stufe der engen Wendeltreppe, als Holzer ihn plötzlich am Arm packte.
    »Halt! Da lang.«
    Erst jetzt sah er die kleine Tür zu seiner Linken. Und dann begriff er, was Holzer plante. Wenn er ihn hier einsperrte, konnte er ihn genauso gut bei lebendigem Leib begraben.
    »Das ist nicht Ihr Ernst!«, keuchte Jan.
    Holzer stieß ihn durch die kleine Tür in die Kammer.
    »Das können Sie doch nicht machen. Holzer, Mann, nehmen Sie Vernunft an und lassen Sie mich gehen!« Mitdem Mut eines

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