Holundermond
Eingangsportal der Kirche.
»Flavio, warte!« Ängstlich berührte Nele ihren Freund an der Schulter. »Was hast du vor?«
»Ich will da rein und das Schwert verstecken. Mehr weiß ich noch nicht. Ich bin mir nur einfach ziemlich sicher, dass Holzer heute Nacht kommen wird, um das Schwert zu stehlen.« Flavio zog Nele zielstrebig zum Seiteneingang der Kirche, der sonst nur dem Küster vorbehalten war. Als er merkte, dass sie ihm nur widerstrebend folgte, blieb er stehen. »Hör zu!«, fuhr er mit leiser Stimme fort. »Du hast doch das mit den vier Evangelisten gelesen. Auf dem Pergament. Ich weiß nicht, warum mir das nicht schon vorher aufgefallen ist. Aber diese vier, also die sind in der Kirche.«
Nele runzelte die Stirn. »In dieser Kirche?« Wäre ihr das nicht bei ihrem letzten Besuch aufgefallen?
Flavio verdrehte die Augen. »Nein, in der Klosterkirche natürlich. Die Evangelisten stehen dort auf Sockeln. Aber erst wieder seit ein paar Tagen. Sie wurden zum Restaurieren fortgegeben, und als du das vorhin gesagt hast, da ist es mir wieder eingefallen. Holzer hat damals einen Riesenaufstand deswegen gemacht und hat sämtliche Restaurationsarbeiten im Kircheninneren sofort einstellen lassen. Dann kamen sie zurück. Das heißt, drei kamen zurück: Matthäus, Lukas und Johannes. Für Markus war es schon zu spät, der war bereits auseinandergenommen worden.«
»Aber was hat das alles mit dem Flammenschwert zu tun?«
»Warte, ich bin ja noch nicht fertig. Der vierte, Markus, wurde gestern frisch restauriert zurückgebracht. Ich habe ihn gesehen, als wir dort waren. Aber ich habe es nicht für wichtig gehalten. Die Prophezeiung …«
Nele hatte das Notizbuch hervorgekramt und aufgeschlagen. »Erst unter den Augen des Evangeliums, im Ring vereint«, las sie leise.
»Verstehst du denn nicht?« Flavio zeigte aufgeregt auf den Text. »Irgendetwas passiert, wenn die vier Gegenstände zusammengebracht werden. Was genau, weiß der Teufel. Aber offensichtlich müssen sie unter den Augen der Evangelisten vereint werden. Das würde zumindest erklären, warum Holzer so außer sich war, als die vier aus der Kirche entfernt wurden.«
»Ich verstehe, und da Markus gestern in die Kirche zurückgebracht wurde, hat Holzer es jetzt vermutlich ziemlich eilig, auch den letzten Gegenstand zu stehlen.« Nele nickte. Verdammt. Es konnte sein, dass Flavio recht hatte. Sie mussten Holzer aufhalten. Aber wie um alles in der Welt sollten sie ihn davon abhalten, das Flammenschwert zu stehlen?
»Wir müssen einfach schneller sein als er.« Flavio ging in die Hocke und machte sich am Schloss der Seitentür zu schaffen. »
Maledetto
!«, entfuhr es ihm. »Die Tür ist nicht verschlossen. Wir kommen zu spät.« Vorsichtig drückte er die Klinke herunter.
Mit aufgerissenen Augen starrte Nele ihn an. »Du kannst doch jetzt nicht dort reinmarschieren«, flüsterte sie. »Was, wenn Holzer noch da drin ist und uns erwischt? Bist du lebensmüde?« Verzweifelt versuchte sie, Flavio am Betreten der Kirche zu hindern. Doch der legte einen Finger auf die Lippen und schlüpfte ungeachtet ihrer Proteste in den dunklen Seitenraum.
»Flavio, bitte, das ist zu gefährlich. Wir sollten Hilfe holen.« Nele konnte die Tränen kaum noch zurückhalten. Sie griff nach Flavios Schulter. Sie hatte Angst.
»Nele!« Flavio packte ihren Arm und schüttelte sie sacht, als müsste er sie zur Besinnung bringen. »Nele, hör zu! Ich muss in die Kirche. Ich muss sehen, ob Holzer da war und das Schwert gestohlen hat. Wir werden aufpassen, dass wir ihm nicht in die Arme laufen, das verspreche ich dir. Aber wir müssen wissen, was hier vor sich geht.«
Mussten sie das? War es wirklich wichtig herauszufinden, ob Holzer diese Gegenstände gestohlen hatte? Nele wusste gar nichts mehr.
Aber Flavio ließ nicht locker. »Na los, komm schon!«
Nele wischte sich die Tränen aus den Augen und versuchte, sich zu orientieren. Viel konnte sie in dem schummerigen Licht der vereinzelt brennenden Kerzen aber nicht erkennen. Sie griff nach Flavios Shirt und schlich hinter ihm geduckt von einer Bankreihe zur nächsten in Richtung der Seitenkapelle, in der sie den Erzengel mit seinem Flammenschwert gesehen hatten. Noch immer hatte Nele panische Angst, dem skrupellosen Historiker geradewegs in die Arme zu laufen. Wer konnte ihnen dann noch helfen?
Die Gedanken in ihrem Kopf überschlugen sich. Mit einem Mal kam es ihr so dumm vor, dass sie Holzer auf eigene Faust das Handwerk legen
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