Holundermond
mit sich herumzuschleppen. Auf Taschenlampen mussten sie verzichten, damit würden sie sofort auffallen. Jeder von ihnen hatte sich eine Kerze in die Tasche gesteckt, Flavio hatte sein Taschenmesser dabei und Nele das Notizbuch. Das musste reichen. Giovanni hatte sich schnell noch den Plan der Kartause unter das Hemd geschoben. Nun standen sie gemeinsam vor dem Gemälde, bereit, eine andere, längst vergangene Welt zu betreten.
Sie hatten vereinbart, dass Viviane hier in der Kirche auf sie warten sollte.
Nele atmete tief durch und griff nach Johannas linker Hand, während Flavio die rechte festhielt.
Giovanni stand hinter ihnen und trat nervös von einem Fuß auf den anderen. »Also kann es losgehen?«, fragte er. »Und ihr seid sicher, dass das funktioniert?«
»Wir sind sicher, Papa. In wenigen Sekunden werden wir in einer anderen Zeit sein.« Flavio sah Nele an. »Na, dann mal los.«
Nele schloss die Augen. Sie hatte ein wenig Angst davor, was sie nun erwartete. Flavio hatte ihr erzählt, es würde sich anfühlen, als ob man in ein bodenloses Nichts fallen würde.
Hinter ihnen ertönte Vivianes Stimme: »Auf drei geht ihr durch.« Dann begann sie zu zählen. »Eins, zwei und …«
Nele packte Johannas Hand ein bisschen fester und machte einen Schritt nach vorn.
»… drei!«
Vivianes Stimme war das Letzte, was Nele hörte. Dann verschwand alles um sie herum und sie tauchte ein in ein finsterstes Schwarz. Totenstille umfing sie und der vertraute Geruch nach Farben löste sich auf. Für einen Moment wurde ihr schwindelig, sie hatte das Gefühl zu fallen, dann spürte sie plötzlich Boden unter sich und fiel auf die Knie.
Augenblicklich nahm Nele einen stechenden Geruch nach Fäulnis, nach Krankheit und Urin wahr. Angeekelthielt sie die Luft an. Sie griff neben sich und bekam Johannas Arm zu fassen.
»Los, nix wie weg«, zischte Flavio ihnen leise zu und half ihnen auf die Füße. Nele wollte sich umsehen, versuchte, etwas in der Finsternis zu erkennen, aber Flavio hatte recht.
Wenn sie nicht entdeckt werden wollten, mussten sie so schnell wie möglich verschwinden. Im Schutz der Dunkelheit rannten sie um das Gemälde herum zu der kleinen verborgenen Tür, die zur Treppe auf den Speicher führte. Das Zylinderschloss, das die Tür in ihrer Zeit sicherte, gab es noch nicht.
Flavio schloss die Tür hinter sich und lehnte sich aufatmend dagegen.
»Uff, das hätten wir. Ich glaube nicht, dass uns jemand gesehen hat.« Es dauerte einen Moment, bis Flavio es schaffte, seine Kerze anzuzünden.
Als das Feuerzeug aufflammte, bemerkte Nele, dass etwas nicht stimmte. Wo war Giovanni? Von ihm fehlte jede Spur in dem engen Treppenhaus. »Flavio, dein Vater …«, flüsterte Nele
»Ich weiß.« Flavio legte ihr die Hand auf den Arm. »Er ist bei Viviane geblieben.«
»Aber warum?«
»Nun, vielleicht hätten wir ihm sagen müssen, dass die Sache nur funktioniert, wenn er sich an Johanna festhält.« Flavio grinste im Schein der flackernden Kerze von einem Ohr zum anderen.
Nele riss die Augen auf. »Du hast ihm das nicht gesagt? Ich meine …«, stammelte sie, »du hast ihm das … absichtlich nicht gesagt?«
Flavio zuckte mit den Schultern. »Überleg doch mal. Mein Vater hätte uns nur im Weg gestanden. Ihm ist immer alles zu gefährlich. Dafür haben wir keine Zeit.«
Nele kroch eine Eiseskälte den Nacken hinauf. Sie war allein mit ihren Freunden in eine andere Zeit gereist. Weit weg von Viviane. Weit weg von Lilli. Weit weg von Jan. Unerreichbar weit weg von allen, die sie liebte. Angst ergriff Besitz von ihr.
»Hol deine Kerze raus, Nele«, sagte Flavio.
Mit zitternden Fingern kramte sie in ihrer Jackentasche danach und Flavio zündete sie mit seinem Feuerzeug an.
Johanna wollte so schnell wie möglich nach Samuel sehen, und sie vereinbarten, dass sie ohne sie gehen sollte. Allein würde sie in der Kirche nicht auffallen. Sie sollte Samuel wecken, ihn beruhigen und versuchen, mit ihm bis zu dem Altarbild zu gelangen, um bereit zu sein, wenn Flavio und Nele von ihrem Erkundungsgang zurückkamen. Wenn einer sie aufhalten wollte, würde Johanna ihm erzählen, dass sie mit ihrem kranken Bruder vor den Heiligen beten wollte. Daran würde sie wohl kaum einer hindern. Außerdem waren die meisten Menschen in der Kirche selbst viel zu krank und zu schwach, um sich groß um das zu kümmern, was um sie herum passierte.
Nele nickte nur stumm und sah Johanna hinterher, die in der Dunkelheit verschwand.
»Was ist
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