Holundermond
Kirchentür, von dem Altarbild und von Johanna, die sie zurückbringen würde in ihre Zeit.
Nele biss sich auf die Lippen, um nicht wieder loszuweinen, diesmal vor Freude. Abwechselnd schaute sie von Flavio zu Jan.
Als sie die Tür erreichten, löschten sie die Kerzen und schlichen sich so leise wie möglich in das Innere der Kirche.
Nele packte das Paket in ihrem Arm fester, kniff die Augen zusammen und versuchte, in der Dunkelheit irgendetwas zu erkennen.
Da trat ein Schatten hinter einer Säule hervor und stellte sich ihnen in den Weg. »Ich glaube, ihr habt da etwas, das mir gehört!«, sagte eine tiefe dunkle Stimme, die sich in Neles Kopf bohrte wie ein Messer und ihr den Boden unter den Füßen wegziehen wollte.
Vor ihnen stand ein Mann, der in einen langen schwarzen Kaftan gehüllt war. Seine Arme in den weiten Ärmelndes Gewandes hatte er vor der Brust verschränkt. Auf dem Kopf trug er einen schwarzen Turban. In seinem Gürtel steckte ein langes, scharfes Messer.
Der schwarze Türke vom Naschmarkt. Nie würde Nele diese Stimme vergessen.
Und auf einmal begriff sie, vor wem Holzer solche Angst gehabt hatte.
34
Es war noch dunkler geworden in der Kirche. Vor den Mond, der rund und voll am Himmel stand, hatte sich eine Wolke geschoben.
Nele hatte in den letzten Tagen gelernt, wie es sich anfühlte, Angst zu haben. Sie hatte sich oft Jan an ihre Seite gewünscht, wenn sie glaubte, nicht weiterzuwissen, sich häufig nach Lilli gesehnt, um sie um Rat zu fragen.
Jetzt stand Jan neben ihr, sie hörte ihn atmen, spürte seine Nähe, er hielt sogar ihre Hand, und trotzdem fühlte sie sich so einsam, als stünde sie dem Fremden allein in der riesigen finsteren Kirche gegenüber, der bis auf den Grund ihrer Seele zu blicken schien.
Was wollte der Mann von ihnen? Was wollte er von Holzer? Ging es wirklich nur um diese gestohlenen Gegenstände? Und wenn ja, warum um alles in der Welt gaben sie ihm die Sachen nicht einfach? Sie schaute zu Janhoch, der drückte ihre Hand und schüttelte nur stumm den Kopf.
Mit Entsetzen sah sie, wie der Fremde seine Hand auf den Griff des Messers legte und dieses ganz langsam aus seinem Gürtel zog.
»Ich sehe, ihr seid nicht so leicht zu überzeugen. Nun, ihr habt recht, ich bin ein Händler. Und mit einem Händler sollte man immer ein wenig feilschen, sonst macht die Sache ja keinen Spaß.« Er wandte sich an Nele. »Na, was schlägst du mir für einen Handel vor?«
Nele erschauderte bei dem schmierigen Lächeln. Sie rückte enger an Jan heran.
»Na komm, mach einen Vorschlag, stell dir vor, wir sind auf einem Basar.«
Nele biss sich auf die Lippen, um nicht laut aufzuschreien. Der Türke war dicht vor sie getreten und hatte ihr Kinn mit seinen Händen gefasst und zwang sie, ihn anzusehen.
Sie wollte seine Hand abschütteln, aber seine Finger hielten ihren Kopf wie in einem Schraubstock und – sie waren kalt wie Eis.
»Wer immer du bist, lass sofort meine Tochter los!« Jan machte einen Schritt nach vorn und wollte die Hand des Fremden wegschlagen. Da traf ihn der Blick des Mannes und Jan fasste sich mit beiden Händen an den Kopf. Sich vor Schmerzen krümmend stöhnte er auf.
Nele schnappte nach Luft und taumelte rückwärts, als der Türke sie plötzlich losließ.
Er spielte gedankenverloren mit seinem Messer, strich abwesend mit dem Finger über den reich verzierten Griff, hauchte auf die silbern schimmernde Klinge und fing an, sie mit dem Ende seines schwarzen Gewands zu polieren. Traurig lächelnd schüttelte er den Kopf. »Ihr seid doch alle gleich. Auch Bruder Stephanus wollte die Schätze für sich haben. Aber mein Angebot ließ ihn dann doch schwach werden.« Blitzschnell griff er in Flavios Haar, und noch bevor dieser überhaupt reagieren konnte, hatte er mit seinem Messer eine Locke abgeschnitten. Nele presste sich die Hand auf den Mund. Der Fremde hielt ihr Flavios Locke dicht vor das Gesicht. »Diesmal sind es nur ein paar Haare deines vorlauten Freundes hier. Bruder Stephanus hat mit seinem Ringfinger für seine Habgier bezahlt und selbst das war noch nicht genug. Am Schluss bezahlte er mit seinem Leben.«
Nele wurde schlecht. Sie musste an den Grabstein auf dem alten Friedhof denken. Holzer war tot?
»Du hast ihn … umgebracht«, stammelte Nele.
»Das war gar nicht nötig. Dafür hat er schon selbst gesorgt. Ich habe ihn lediglich an den Ort zurückgeschickt, an dem er mich zum ersten Mal getroffen hat. Ihr hättet ihn sehen sollen, den großen
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