Holundermond
die andere bereit waren zu morden. Sie waren hier zusammen mit ihm eingeschlossen. Hätte seine Stimme ihm gehorcht, hätte Jan laut gelacht über die Ironie des Schicksals.
Dann hörte er plötzlich Schritte. Und ein Kratzen an der Tür. Irgendjemand versuchte, sich Zutritt zu der Schatzkammer zu verschaffen. Und Jan wusste, egal wer es war, es war seine einzige Chance, hier jemals wieder herauszukommen.
So leise wie möglich hangelte er sich an der kalten Mauer entlang bis zur Tür. Dort lehnte er sich an die Wand und betete, dass seine Kraft ausreichen würde, den Eindringling zu überwältigen. Holzer konnte es nicht sein, der hatte einen Schlüssel. Wer auch immer hier hereinwollte, tat dies nicht auf legalem Weg.
Jan hielt die Luft an. Ein Klicken verriet ihm, dass das Schloss aufgesprungen war …
Flavio drückte die Tür auf und machte einen Schritt in den Raum hinein. Nele hielt seine Hand fest umklammert, als ihr diese plötzlich entglitt und Flavio mit einem lauten Stöhnen zu Boden stürzte.
»Flavio!« Nele stolperte nach vorn und ließ die Kerze fallen. Tiefste Dunkelheit hüllte sie ein. Sie konnte Flavio vor Schmerzen wimmern hören. Ihr Herz raste. »Flavio … was ist passiert?!«
»Nele?«
Nele glaubte, ihr Herz müsste auf der Stelle stehen bleiben. Es war nicht Flavio, der da aus der Dunkelheit zu ihr sprach.
»Nele?«, flüsterte die Stimme erneut. »Nele, bist du das?«
Neles Beine wollten ihr den Dienst versagen, sie klammerte sich an den Türrahmen. »Jan«, stammelte sie. Tränen schossen ihr in die Augen und liefen über ihr Gesicht. »Jan!« Zwei starke Arme schlossen sich um sie, zwei Hände streichelten ihr Gesicht, fuhren über ihre zerzausten Haare.
Nele atmete tief ein. Jan. Wie sehr hatte sie ihn vermisst, wie sehr hatte sie sich nach ihm gesehnt. Sie weinte und weinte und konnte gar nicht mehr aufhören. All die Sorgen, all die Angst, die sie so lange zurückgehalten hatte, suchten sich einen Weg nach draußen, und Nele konnte nichts dagegen tun. Jan hielt sie an sich gedrückt, legte seine Hände um ihren Kopf und küsste ihr Haar. Nele hätte ewig so stehen können, aber dann fiel ihr Flavio ein. Erschrocken riss sie sich von ihrem Vater los und kauerte sich zu Flavio.
»Flavio?« Ängstlich suchte sie den Boden mit den Händen ab, bis sie ihre Kerze fand. Dann griff sie nach dem Feuerzeug in Flavios Jackentasche. »Flavio, bitte sag doch was.«
Jan hatte sich neben sie gekniet und setzte Flavio auf. Mit zitternden Fingern gelang es Nele endlich, die Kerze anzuzünden, und ein flackerndes Licht erhellte die Kammer.
»Flavio?« Sie hielt die Kerze dicht unter sein Gesicht und atmete auf, als sie sah, dass Flavio seine Augen geöffnet hatte und sie angrinste. Aus seiner Nase tropfte Blut, das er achtlos mit seinem Jackenärmel wegwischte.
»Ich wollte euch die Wiedersehensfeier nicht verderben«, wandte Flavio sich an Jan. »Aber ich glaube, so langsam wird es Zeit, hier zu verschwinden.«
»Mein Gott – Flavio!« Jan zog ihn auf die Füße. »Es tut mir leid, es tut mir so leid. Ich konnte ja nicht ahnen …« Jans Stimme war nur ein Krächzen und Flavio nickte schnell.
»Schon in Ordnung. Lasst uns abhauen, solange die Tür offen ist.«
»Wartet!« Jan hielt Nele zurück. »Die gestohlenen Sachen.«
»Natürlich!«, rief Flavio. »Deshalb sind wir ja eigentlich gekommen.«
Nele hielt die Luft an. Also hatte Johanna recht gehabt, die Gegenstände waren hier. Hier in Johannas Zeit, sicher versteckt in einer Kammer, die Holzer nie mehr erreichen konnte.
Wäre es nicht besser, sie dort zu lassen? Bevor Nele den Mund aufmachen konnte, schüttelte Jan den Kopf.
»Wir müssen sie mitnehmen. Sie müssen an einen anderen, einen sicheren Ort gebracht werden.«
Es zerriss Nele das Herz zu hören, wie schwer Jan es fiel zu sprechen. Er musste schreckliche Schmerzen haben. Aber er lebt, sagte sie sich, Jan lebt und wir sind wieder zusammen. Das allein zählte.
Jeder von ihnen griff sich eines der Bündel und dann begannen sie, langsam die Treppe zur Kirche hinunterzusteigen.
Jan fragte nicht, wie sie überhaupt wieder zurückkommen wollten, und Nele war ihm dankbar dafür. Sie wollte jetzt nicht reden, nichts erklären müssen.
Alles würde gut werden. Sie konnte es noch nicht begreifen, aber sie wollte es so gerne verstehen. Sie würden nach Hause zurückkehren, sie und Jan und Flavio und alles würde in Ordnung kommen. Nur noch wenige Stufen trennten sie von der
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