Holundermond
Doktor Holzer.« Selbst in der Dunkelheit konnte Nele das böse Lächeln im Gesicht des Händlers erkennen. »Wie ein Kleinkind lag er wimmernd vor mir im Staub und bettelte. Nun, er hatte seine Chance. Er hätte im Wald bleiben sollen, statt zurück in das brennende Kloster zu laufen. Aber er konnte noch nieden irdischen Reichtümern widerstehen.« Über Neles Rücken lief ein eisiger Schauer.
Der schwarze Mönch hatte Holzer zurück in die Nacht des Türkenüberfalls geschickt. Wer war dieser Mann, der solche Macht besaß?
Der Fremde beugte seinen Kopf ganz dicht zu Nele herunter und zischte: »Er kam mit leeren Händen zum vereinbarten Treffpunkt. Du hast nicht zufällig eine Idee, wer dahintersteckt?«
»Lass meine Tochter in Ruhe!« Jan hatte sich wieder aufgerappelt und schob sich zwischen Nele und den Türken. »Wenn du verhandeln willst, dann tu das mit mir. Lass gefälligst die Kinder aus dem Spiel! Mich kannst du mit deiner Maskerade nicht beeindrucken.«
»Maskerade?« Der Türke lachte auf. »Tragen wir nicht alle Masken? Bruder Stephanus zum Beispiel. In der Kutte eines frommen Mönchs hat er sein ganzes Leben lang nur danach getrachtet, den Tod seiner Eltern zu rächen. Dummerweise hat er sich Gott als Gegner ausgesucht, das machte die Sache ein klein wenig komplizierter, nicht wahr?« Seine Stimme troff vor Hohn. »Und du?« Er berührte Jans Kinn mit der Spitze seines Messers. »Du forschst unter dem Deckmantel der Wissenschaft. Gibst vor, einer guten Sache dienen zu wollen, verlässt Frau und Kind für diesen ach so ehrenvollen Beruf, und in Wirklichkeit bist du genauso hinter dem Schatz her wie alle anderen. Seit Jahren beobachte ich dich, ich kenne jeden deiner Schritte.«
Flavio hatte sich an Nele herangepirscht und nach ihrer Hand gegriffen.
»Nehmen wir Viviane«, fuhr der Türke fort und starrte Nele dabei aus zusammengekniffenen Augen an. »Die gute liebenswerte Viviane. Die fürsorgliche Wirtin einer gemütlichen Ferienpension. Ich nehme nicht an, dass sie euch erzählt hat, woher sie wirklich kommt. Auch sie hat es doch nur auf den Schatz abgesehen. Aber damit das niemand merkt, hat sie euch die ganze Drecksarbeit machen lassen.« Er lachte verächtlich. »Ein paar nichtsnutzige Kinder … Aber ich muss zugeben«, er wandte sich an Flavio und stieß ihn mit dem Messer ein paar Schritte rückwärts, »meine Schwester hat eine gute Wahl getroffen. Ihr habt ganze Arbeit geleistet. Und jetzt her mit den Sachen, ich habe lange genug Geduld mit euch gehabt!«
»Schwester?« Nele hatte die Stirn gerunzelt.
»Ja, meine Schwester. Sie hätte alles von mir haben können. Aber nein, sie musste sich ja diesem verrückten Bund anschließen. Dem Bund der Wächter der Zeit.« Der Fremde spuckte vor Nele auf den Fußboden.
»Du bist gar kein Türke?« Flavio hatte die Fassung wiedergewonnen.
Der Mann im schwarzen Kaftan lachte laut auf. »Ich bin, was ich bin, und ich bin, was ich sein will. Für dich bin ich nur ein Obsthändler vom Naschmarkt. Für Bruder Stephanus war ich der schwarze Mönch, der ihn in seinen schlimmsten Albträumen noch heimgesucht hatte. Und für Viviane bin ich der Bruder, mit dem sie gebrochen hat.Und für euch«, seine Stimme wurde schärfer, »werde ich der Tod sein, wenn ihr mir jetzt nicht sofort das gebt, was ohnehin mir gehört!«
Nele zitterte am ganzen Körper. Stimmte es? Zweifel keimten in ihr auf. Merkwürdig war es schon, dass Viviane so viel über das Altarbild und die sich darum rankende Legende wusste. Und hatte Viviane nicht erst heute gesagt, sie sei einst selbst durch das Gemälde gegangen? Wie alt war sie wirklich? Und was hatte es mit dem Bund der Wächter auf sich?
Nele wusste nicht mehr, was sie glauben sollte. Wem sie glauben sollte. Selbst Jan hatte so viel vor ihr geheim gehalten. Stimmte es überhaupt, dass er im Auftrag der Polizei nach Österreich gekommen war? Oder war auch das eine Lüge? Wem konnte sie noch vertrauen?
In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Wo ist Johanna? Ohne Johanna hatten sie keine Chance, diese Zeit je wieder zu verlassen. Und warum konnten sie dem Fremden, der von sich behauptete, Vivianes Bruder zu sein, nicht einfach die Gegenstände geben? Sie wollte gerade Jan bitten, doch genau das zu tun, als sie ein leises Weinen hörte.
Und da fiel ihr wieder ein, was sie vor lauter Angst vergessen hatte. Die Kirche, der Raum auf der anderen Seite des Gemäldes, war voll mit Menschen. Menschen, die ihnen vielleicht
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