Holundermond
helfen konnten, den Fremden zu überwältigen, ihm sein Messer zu entreißen, ohne das er hoffentlich keine Macht mehr über sie haben würde.
Ihr Blick begegnete für einen kurzen Moment seinen Augen, und entsetzt erkannte Nele, dass er sie durchschaut hatte, dass er in ihren Gedanken las wie in einem offenen Buch. Er schüttelte nur verächtlich den Kopf.
»Diese Menschen werden dir nicht helfen. Sie alle hier werden sterben, die einen heute, die anderen morgen.«
»Hör auf!« Nele hielt sich die Ohren zu. »Hör auf, so zu reden! Lass uns in Ruhe. Du kannst die Sachen ja haben, aber lass uns endlich in Ruhe!« Sie schleuderte dem Fremden ihr Paket hin und wollte zum Altargemälde stürzen, aber Jan fasste ihre Hand und hielt sie fest.
»Bleib hier«, flüsterte er. »Bitte vertrau mir und bleib hier.«
Nele blieb stehen, aber in ihr war alles in Aufruhr. Sie wusste nicht, welches Gefühl im Moment in ihr am stärksten war. Angst? Zorn? Panik? Sie wollte einfach nur weg. Weg von dem Fremden, weg von dem Altarbild, weg aus dieser Zeit, weg von dem Gestank, dem Leiden in dieser Kirche.
Und ja, auch weg von Jan. Alles war anders, als sie es sich vorgestellt hatte. Jan war nicht mehr der, der er noch vor wenigen Tagen für sie gewesen war. Der Held ihrer Kinderzeit war verschwunden und mit ihm die Sicherheit, dass immer alles gut werden würde, wenn er nur da war.
»Bitte«, sie versuchte ebenfalls zu flüstern, aber ihre Stimme wollte ihr nicht gehorchen. »Bitte, Jan, ich will weg hier. Gib ihm die Sachen und lass uns gehen. Bitte!«Sie schämte sich, dass es ihr nicht gelang, ihre Angst zu verbergen.
Sie spürte, wie Jan neben ihr seine Schultern straffte und tief einatmete.
»Wenn wir dir diese Gegenstände hier geben«, er zeigte auf das Bündel, das immer noch unbeachtet zu den Füßen des Fremden lag, »dann lässt du uns zurückkehren in unsere Zeit? Du weißt, dass wir nicht allein durch das Gemälde gehen können.«
»Der große Historiker Jan Wagner«, die Stimme des Türken war eiskalt, »versucht mich zu betrügen? Du weißt genau, dass diese Gegenstände nutzlos sind ohne den vierten. Ich brauche das Flammenschwert! Du beleidigst meine Intelligenz, Wagner. Und ich lasse mich nur ungern beleidigen.« Drohend hob der Fremde wieder das lange Messer und stieß es Jan vor die Brust. »Heb das auf!« Mit dem Kopf bedeutete er Nele, das Paket zu seinen Füßen an sich zu nehmen. Am ganzen Körper zitternd kam sie seiner Aufforderung nach.
»Du«, er zeigte auf Flavio, »du wirst jetzt zurückgehen in eure Zeit! Ich gebe dir fünf Minuten. Dann wirst du wiederkommen. Und du wirst mir das Flammenschwert mitbringen. Fünf Minuten, hörst du!« Er trat neben Nele und griff ihr so fest in die Haare, dass sie ihren Kopf in den Nacken legte, um dem Schmerz nachzugeben. Kalt spürte sie die Klinge des Messers an ihrem Hals. »Solltest du in fünf Minuten nicht zurück sein, wirst du deine Freundin niemals wiedersehen. Das verspreche ich dir.« Nele warunter dem Griff des Mannes erstarrt. Voller Angst blickte sie zu Flavio.
»Fünf Minuten, einverstanden. Bitte tu ihr nichts. Ich hole dir das Flammenschwert. Gib mir fünf Minuten. Und sag mir, wie ich durch das Bild kommen soll.«
Nele hörte das Zittern in Flavios Stimme und bewunderte ihn dafür, dass er überhaupt noch einen Ton herausbrachte.
»Das wird nicht nötig sein.«
Giovanni.
Nele konnte ihn nicht sehen, aber sie erkannte seine Stimme sofort. Er musste neben dem Altarbild stehen.
Der schwarze Mönch ließ Nele los und fuhr herum.
Nele warf Flavio einen Blick zu und sah, wie er für einen Moment die Augen schloss, als hoffte er, sein Vater würde verschwunden sein, wenn er sie wieder öffnete. Nele konnte sich denken, was in ihm vorging. Es reichte, dass sie drei hier festgehalten wurden und es kein Entkommen gab. Giovanni hätte sich nicht noch freiwillig in die Hände des finsteren Fremden begeben müssen. Aber statt wieder zu verschwinden, trat Giovanni einen Schritt vor. In seinen Armen hielt er ein Bündel. Ein verschnürtes Paket.
»Du wolltest das Flammenschwert, hier ist es.« Er drückte dem überrumpelten Mann das Paket in den Arm. »Und jetzt nehme ich meinen Sohn mit. Komm, Flavio!«
»Da ist Johanna! Lauf, Nele!« Flavio warf dem schwarzen Mönch das Paket vor die Füße und stürzte los. Es blieb keine Zeit mehr zum Nachdenken. Nele fühlte, wie Jansie nach vorne riss, sie ließ ihr Päckchen fallen und stürzte an dem
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