Holy Shit
Dokumentarfilmen über bestimmte Milieus wie Jugendgangs in Problembezirken, Gefängnisse oder die Armee lässt sich beobachten, wie sehr das Fluchen dort zum Alltag gehört, wie man sich überbietet in Ausdrücken, die in offiziellen Bereichen wie Kirche, Universität, Gericht, Schule oder in Betrieben unterdrückt werden. Je nach Ort und Umfeld wechseln die meisten Menschen sehr gekonnt und mit vielen Abstufungen zwischen einer derberen und einer zivilisierteren Sprache.
Kurioserweise erwischt es dann im Alter manchmal selbst die Anständigsten und Unschuldigsten: Sie schreien, spucken, fluchen in einer Weise, dass Angehörige und Freunde sich verzweifelt fragen, was nur in sie gefahren ist. Die frühereVermutung, sie seien vom Teufel besessen, liegt einem in solchen Momenten nah. Aber nein, die Antwort ist einfacher: Bei Demenzkranken beispielsweise, um einen etwas unscharfen Begriff zu verwenden, lässt die Kontrollfunktion bestimmter Hirnareale nach. Plötzlich öffnen sich die Archive der »bösen Begriffe«, die jeder Mensch in seiner sensiblen Phase als Kleinkind und Kind aufgenommen hat, selbst wenn er sie in der Folge so gut wie nie verwendet hat. Ja, die lebenslang angestrengte Vermeidung von Tabuwörtern verstärkt ihre Verankerung in bestimmten Hirnregionen. So erklärt sich, dass – klassischer Fall – Frauen, die zuvor Anstand und Höflichkeit in Person waren, wie Bierkutscher schimpfen, weil die interne Kontrollfunktion lahmgelegt ist. Natürlich können sie nichts dafür, aber an der Peinlichkeit für die anderen ändert das nichts.
Die Schimpfkaskade. Was im Hirn beim Fluchen, Meckern, Schimpfen passiert
Es klingt schon seltsam, wenn Fachbücher sich »Anatomie der schmutzigen Wörter« (Sagarin) oder »Anatomie des Fluchens« (Montagu) nennen, als könnte man in uns ein Fluchmodul orten und chirurgisch entfernen. Experimente dieser Art kamen tatsächlich vor – das ärgerliche Fluchen empfand man ja als störendes, überflüssiges, geradezu entwürdigendes Verhalten. Es zu amputieren war für manchen Psychopathologen ein Traum, für andere eine gute Tat. Weit mehr lernte die neurologische Wissenschaft und mit ihr die Fluchforschung von Patienten mit Hirnverletzungen oder psychischen Erkrankungen wie dem Tourettesyndrom, dem ein eigenes Kapitel gewidmet ist, der Demenz oder der Aphasie (allgemein »Sprachverlust«).
Vereinfacht gesagt, kann man im Hirn zwei Fluchregionen voneinander unterscheiden, die allerdings miteinander verbunden sind. Im Großen und Ganzen handelt es sich um die linke und die rechte Hemisphäre des Hirnfrontallappens. Verletzungen der linken Hemisphäre können die Sprachfähigkeit und die Kontrolle des Sprechens nach sozialer und situationsbezogener Gegebenheit zerstören; interessanterweise ist aber immer wieder das Fluchen, zumindest das unwillkürliche, spontane, nicht betroffen. Neue Flüche zu lernen und alte neu zu kombinieren, gelingt nicht. Ähnliche Verletzungen der rechten Hemisphäre lassen dagegen oft das Fluchen selbst verschwinden. Als die Neurologen diesen Befunden weiter nachgingen, stellten sie fest, dass bewusstes, kreatives, überlegtes, sogenanntes strategisches Fluchen eher in der linkshemisphärischen Hirnregion zu orten ist, reflexartiges, unwillkürliches dagegen rechtshemisphärisch. Dort sind eher Emotionen lokalisiert, auf der linken Seite Kontrollfunktionen wie Logik, rationale Konsistenz, Grammatik, Semantik, die Einschätzung sozialer Angemessenheit und so weiter. Ähnliche Aufgabenverteilungen zwischen linker und rechter Hemisphäre sind für andere Themenbereiche lange bekannt.
Eine Art Fluchmodul meinen die Forscher in der rechten Hemisphäre zu finden, das verbunden ist mit kortikalen und subkortikalen Strukturen wie den Basalganglien, der Amygdala, dem limbischen System überhaupt. Dieses Fluchzentrum im Bereich des hochkomplexen und für viele andere Bereiche zuständigen Systems der Emotionserfahrung und des Ausdrückens von Emotionen steht üblicherweise in Interaktionen mit den linkshemisphärischen Kontrollinstanzen des Frontallappens, die bei sehr starken oder sehr raschen Fluchimpulsen nicht schnell genug reagieren können, um Flüche zu vermeiden. Die Kontrolle kann natürlich auch bei Hirnschädigungen durch Krankheit oder Unfall ausfallen. Hier befindet sich außerdem ein zweites Fluchzentrum, das durch bewusstenEinsatz und/oder durch eine neue Zusammenstellung von Kraftausdrücken gekennzeichnet ist.
Ein simpler Beweis
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