Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Holy Shit

Holy Shit

Titel: Holy Shit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rolf-Bernhard Essig
Vom Netzwerk:
für die komplexen Prozesse innerhalb des Hirns beim Fluchen ist der missglückte Versuch, einen Fluch zu unterdrücken: Wie oft hört man nicht »Scheiß…! Entschuldigung!« oder »Fuck! … Verzeihung!«. Manchmal kommen nur halbe Flüche heraus, oder aber die Kraftausdrücke und die Entschuldigungen verschmelzen zu seltsamen neuen Paradoxien.
    Da sowohl die Auslöser für das Fluchen wie die Flüche selbst sich graduell sehr fein unterscheiden, gibt es auch kein einfaches Modell für das, was im Hirn passiert, bevor ein Fluch artikuliert wird. Mal ist der Reiz durch plötzlichen Schmerz oder/und Emotionen so stark, dass das rechtshemisphärische Flucharchiv sofort reagiert, bei weniger starken Auslösern kann es zu einer mehrfachen Abgleichung zwischen den linkshemisphärischen Kontrollbereichen und den rechtshemisphärischen Emotions- und Fluchbereichen kommen – mit ungewissem Ausgang. Schließlich gibt es noch die lang vorbereiteten Flüche, die man sich für eine bestimmte Person und Situation zurechtlegt, um sie genüsslich zu zelebrieren.
    Vereinfacht lässt sich ein Fünf-Phasen-Modell des Fluchens so darstellen:
    1 Auslöser durch Schmerz, Provokationen verbaler oder anderer Art, Enttäuschung und Ähnliches
    2 Physische und psychische Reaktionen (Erregung, Wut, Ärger), gesteigerte Hirnaktivitäten, besonders rechtshemisphärisch
    Unwillkürliches, reflexhaftes, automatisches Fluchen möglich bei entsprechender Stärke, häufig Einsilbenflüche oder sehr kurze (z. B. »Mist!«, »Fuck!«, »Merde!«, »Cazzo!«)
    3 Hemmphase, besonders linkshemisphärisch gesteuert (Erziehung, Moral, habitualisierte Verhaltensmuster)
    4 Abwägung, Kontextualisierung und Bewertung. Fokussierung des Fluchens (eine Frau beschimpft man nicht als »Schwuchtel«, einen Hammer nicht als »Drecksau«)
    Willkürliches Fluchen möglich bei entsprechend positiver Bewertung und erfolgreicher Fokussierung
    5 Konsequenzenabwägung insgesamt, ob Fluchen Gewinn oder Verlust bedeuten wird
    Je nach Ergebnis: fluchen oder – nicht fluchen.

Kraftausdrücke oder Was die Wörter stark macht
    Theoretisch kann man mit allen Wörtern fluchen. Warum sollte man nicht »Papier!« schreien oder »Treppe!« oder »Tisch!«, »Schritt!«, »Bett!«? Es gab immer wieder Versuche, Menschen das Fluchen damit abzugewöhnen, dass man sie auf harmlose Begriffe hinwies, die sie statt der bösen Wörter verwenden sollten. Angeblich gelang das bei manchen. Der große Vorteil: Fluchte man wirklich so neutral, schwächte sich der schlechte Eindruck, den man auf sein Umfeld macht, entscheidend ab. Passanten würden sich bloß über einen Mann wundern, der laut »Ernst! Wurst! Kalt!« schreit, weil ihm der Geldbeutel in den Fluss gefallen ist.
    Allerdings will man ja in der Regel gerade die Macht und Stärke der Fluchwörter für sich nutzbar machen. Diese Energie gewinnen sie schon durch die mehrfach erwähnten kulturellen Tabus, Verbote, Regeln, Gesetze. Sich über diese hinwegzusetzen kostet Mut und Kraft und beweist zugleich, dass man beides besitzt.
    Das gilt umso mehr für überlegte, bewusste Schimpfkanonaden. Der reflexhafte Fluch über den Hammerschlag auf den Daumen dient dem Schmerz- und Spannungsabbau, wenn man schreit: »Blöder Hammer!« Man schiebt die Schuld aufsWerkzeug und muss sich nicht mehr über die eigene Dummheit ärgern.
    Das kontrollierte, absichtsvolle Verwünschen und Beschimpfen dagegen dient der Aus- und Abgrenzung von anderen, die heruntergemacht und auf Distanz gehalten werden.
    Kurioserweise funktionieren die Fluchwörter und Kraftausdrücke dabei immer auch als Bestätigung der bestehenden Werteordnung, zumindest indirekt. Alles, was von der allgemein gesetzten Norm abweicht, dient als Beschimpfung: »Schwuli!« und »Lesbe!« bestätigen die heterosexuelle Grundordnung, »Spasti!«, »Du bist ja voll behindert!«, »Schizo!« und »Krüppel!« den Standard psychischer und physischer Gesundheit, »Stinker!«, »Schmutzfink!« und »Schisser!« unser Sauberkeitsideal, »Hure!«, »Lude!« und »Notgeiler Kunde!« den allgemein behaupteten Normalfall nichtgekaufter Sexualität, »Schlappschwanz« und »Frigide Kuh!« unterstreichen die positive Bewertung sexueller Potenz und Bereitschaft, »Affe!«, »Schwein!«, »Kamel!« und »Ratte!« unsere klare Einteilung der Tierwelt in schätzbare und verächtliche Wesen. Es gibt natürlich noch weitere Bereiche, doch die Intention der Beschimpfung bleibt immer die gleiche, zielt sie

Weitere Kostenlose Bücher