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Holzhammer 02 - Teufelshorn

Holzhammer 02 - Teufelshorn

Titel: Holzhammer 02 - Teufelshorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fredrika Gers
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anderen mit abräumen würde. Christine achtete darauf, dass sie selbst ausreichend Zwischenraum ließ.
    Auf diese Weise arbeitete sich die Schlange am Stahlseil empor. Bald kam von rechts die Einmündung der beiden schwierigeren Varianten über eine schwindelerregende Hängebrücke. Die Brücke bestand aus schmalen Holzplanken im Schrittabstand. Dazwischen war nur Luft. Jetzt wurde es noch voller am Seil.
    Nach einigen Quergängen, weiteren Steilpassagen und einer sandigen Rinne gelangte Christine schließlich auf einen kleinen, flachen Rücken mit Bänkchen. Hier konnte man sich ausklinken und in Ruhe verschnaufen. Erst jetzt merkte sie, dass sie komplett durchgeschwitzt war. Und die Schweißbäche waren wohl nicht allein der warmen Herbstsonne zu verdanken – auch ein paar Spritzer Angst waren dabei.
    Sie legte eine Pause ein und streckte sich auf dem schmalen Grasfleck aus. Zum Essen hatte sie nur zwei Müsliriegel dabei, da sie auf die Grünsteinhütte spekulierte. Plötzlich musste sie an ihr allererstes Bergerlebnis denken. Das war im Allgäu gewesen, ein Familienurlaub. Sie war zwölf gewesen, ihr Bruder zehn. Beide hatten sie praktisch noch nie einen Berg gesehen, allenfalls von der Autobahn nach Italien aus.
    Schon als Kind hatte sie die Berge gleich sehr interessant gefunden und ihren Bruder überredet, am nächsten Tag mit ihr «wandern» zu gehen. Warum ihre Mutter das erlaubt hatte, wusste sie bis heute nicht. Sie waren also losgezogen, natürlich in Turnschuhen und kurzen Hosen, immer bergwärts, zunächst auf einem Forstweg. Der wurde ihnen schnell zu langweilig, und sie waren auf einen Grashang abgebogen. Das war eine ganze Weile gutgegangen. Doch dann war der Hang immer steiler geworden, dabei lehmig und rutschig.
    Irgendwann war klar, dass sie nicht mehr umkehren konnten. Sie konnten nur noch aufwärts. Sie versuchten, irgendwie das Ende des Hanges zu erreichen. Ihr Bruder kam rauf, sie nicht. Irgendwann konnte sie weder vor noch zurück, stand wacklig mit den Füßen auf rutschigen Grasballen und krallte sich mit den Händen im Lehm fest. Ihr Bruder schrie von oben nach ihr. Sie schrie zurück: «Ich kann nicht weiter!» Er schrie noch lauter.
    Damals war sie überzeugt gewesen, sterben zu müssen. Und hatte Folgendes überlegt: ‹Entweder ich hänge jetzt hier, bis ich nicht mehr kann und runterfalle. Bis dahin habe ich die ganze Zeit Angst. Oder ich lasse sofort los und bin tot und habe keine Angst mehr.› Das war ihr sinnvoller erschienen. Also hatte sie losgelassen.
    Sie war ein paar Meter tief gefallen, durch Dornen und über Steine gerutscht und dann an einem Busch hängen geblieben. Zum Glück an einer Stelle, von der sie zur Seite weg den Steilhang verlassen konnte. Sie hatte von oben bis unten Schürfwunden und blaue Flecke gehabt. Aber sonst war ihr nichts passiert. Und das Seltsame daran war, dass gerade Grasberge sie auch heute noch besonders anzogen.
    Christine tauchte aus ihrer Erinnerung auf. Sie fühlte sich schon wieder einigermaßen fit, und technisch gesehen war der Rest der Strecke kein Problem mehr, es ging sogar teilweise seilfrei weiter. An dem grün gestrichenen, zum Gate-Projekt gehörenden «Satelliten» vorbei gelangte sie auf den Gipfel. Die Aussicht war phantastisch – hinten der Talkessel, vorne der Watzmann mit seinen Verwandten, links der Jenner mit der Seilbahn. Doch heute hielt Christine sich nicht lange damit auf. Radler und Gulaschsuppe auf der Hütte lockten zu sehr.
    Die Terrasse der Grünsteinhütte war überschaubar, aber trotzdem ging es an diesem Sonntag «ziemlich zu», wie die Bayern sagten. Der junge Wirt wieselte herum. Er wirkte gar nicht wie ein Gastronom, eher schüchtern. Aber Christine wusste, dass er die Hütte bereits seit Jahren betrieb, außerdem war er ein entfernter Verwandter von Matthias. Der neue Klettersteig musste für ihn eine Art Gottesgeschenk sein, die Gästezahlen hatten sich dadurch sicher verdreifacht. Da Klettersteige jedoch nicht vom Himmel zu fallen pflegten, sondern im Gegenteil von unten herauf gebaut wurden, vermutete sie, dass der Wirt auf verschlungenen Wegen mit dem Bau zu tun hatte.
    Christine fand einen Platz, legte den Rucksack ab und begann den Gurt auszuziehen. Während dieser gymnastischen Übung blickte sie sich an den anderen Tischen um. Richtig, da war auch der Klettersteigkurs von vorhin. Die stolzen Bezwinger der Grünstein-Nordwand saßen vor ihren Weißbieren, der Bergführer trank Spezi. Christine

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