Holzhammer 02 - Teufelshorn
Leute besucht, sich um die Bedürftigen gekümmert und sehr schöne Messen für die Verstorbenen gelesen. Und den Österreichern glaubte man schon mal gleich gar nichts.
Ja, die Berchtesgadener waren einfach anders. Irgendwie autonomer. Sie hätte glatt Lust gehabt, darüber zu promovieren. Aber irgendwann musste Schluss sein mit dem Sammeln von Doktortiteln.
Sie fuhr weiter Richtung Königssee, am McDonald’s vorbei. Auch der McDonald’s war etwas Besonderes, denn er hatte wahrscheinlich die kürzesten Öffnungszeiten weltweit. Um elf machte er auf, und um zehn war Zapfenstreich. Dazwischen herrschte Restaurantfeeling, denn meistens musste man auf die Zubereitung der Speisen warten. Alle Bestellungen, die ausgefallener waren als Big Mac und Cola, wurden erst on demand zubereitet. Dafür saß man zur Rodelsaison immerhin neben dem vom nahen Eiskanal herübergewechselten rumänischen Bobfahrerteam, das sich hier bobfahrergerecht ernährte.
Christine stieg in ihre Bergschuhe, schulterte den Rucksack und lief an der ehemaligen Holztrift entlang zum alten Holzsteg beim Stauwehr. An dieser Stelle, wo sich stets Enten und Touristen tummelten, flossen die Wasser des Königssees in die Berchtesgadener Ache.
An der Bobbahn entlang ging es aufwärts. Hier wurde seit Jahren gebaut, ursprünglich wohl um den diversen Olympiabewerbungen mehr Schwung zu geben. Mal gemeinsam mit Salzburg und mal mit München hatte es die Gemeinde versucht. Und immer mit dem Hias an der Spitze. Der Schönauer Bürgermeister hielt wahrscheinlich weltweit den Rekord für die meisten Olympiabewerbungen. Leider waren alle erfolglos gewesen. Der größte Kummer der Sportfunktionäre war jedoch das mangelnde Interesse der Einheimischen an den Wettkämpfen auf der Bobbahn. Andere Skiorte hatten das besser im Griff, möglicherweise weil dort das Verhältnis zwischen aktiven Sportlern und interessierten Zuschauern günstiger war. Hier machte ja jeder selber Sport, und bei schönem Wetter ging man lieber Skitouren, anstatt sich winkend an die Bobbahn zu stellen. Und bei schlechtem Wetter blieb immer noch die Kletterhalle. Auch sonst war der Enthusiasmus für irgendwelche Events eher begrenzt. Für die letzte Bewerbung waren damals händeringend Bettenkontingente gesucht worden, aber kein Betrieb hatte Lust gehabt, sich entsprechend zu verpflichten. In der Faschingsausgabe der Heimatzeitung hatte dann gestanden: «Dem Olympischen Komitee wurden bisher insgesamt zwei Zeltplätze zur Verfügung gestellt.»
Den Vorteil hatten die Touristen, sie bekamen auf jeden Fall einen Platz in der ersten Reihe. Beim Rennrodelweltcup konnte jeder, der wollte, direkt an der Bahn stehen und in dem Bewusstsein baden, dass man nur die Hand ausstrecken musste, um sie sich vom Weltmeisterschlitten eines Patric Leitner, Karl Angerer oder Felix Loch abreißen zu lassen.
Es war inzwischen neun Uhr und die Hölle los. Zahlreiche Grüppchen strebten bergan, fast alle – erkennbar an den Helmen am Rucksack – wollten zum Klettersteig
Der war die neueste Attraktion am Königssee. Dass er so schnell und unbürokratisch gebaut werden konnte, hatte die Gemeinde einem alten, kürzlich verstorbenen Schönauer namens Isidor Grassl zu verdanken, der schon vor dem Krieg hier herumgeklettert war. Vor zig Jahren hatte er einzelne Passagen am Grünstein notdürftig mit einem dünnen Stahlseil gesichert. Das Seil war inzwischen natürlich völlig verrostet und die Verankerungen weitgehend herausgebrochen. Doch es genügte, um die Route als Altbestand auszuweisen. Da es sich somit lediglich um die Sanierung eines bestehenden Steigs handelte, konnte man ohne weiteres Genehmigungsverfahren ans Werk gehen.
Inzwischen gab es drei verschiedene Varianten, sodass Christine hoffte, die Leute würden sich halbwegs verteilen. Für sie selbst kam nur die leichteste Route in Frage – die eigentliche Isidor-Führe. Der hatte sich bestimmt nicht träumen lassen, dass sein bevorzugter Kletterfelsen einmal mehrere Tausend Begeher pro Jahr sehen würde.
Kurz vor der Abzweigung zum Klettersteig wurde Christine überholt. Wieder eins jener typisch Berchtesgadener Frust-erlebnisse. Eine junge Frau rannte an ihr vorbei. Bergauf. Mit Gewichten in den Händen. Sie grüßte freundlich, sehr entspannt, gar nicht außer Atem, und stob davon. Am Anfang war Christine bei solchen Begegnungen jedes Mal ganz frustriert gewesen, hatte sich körperlich quasi minderbemittelt gefühlt. Doch dann war ihr klargeworden, dass
Weitere Kostenlose Bücher