Homicide
Edgerton, nach wie vor in seine Notizen vertieft. »Waren da nicht noch andere auf der Straße?«
Der Dealer nickt fast schon dankbar. Er weiß, welchen Preis er zahlen muss, wenn er herausgehalten werden will.
»Ja, fünf oder sechs Leute«, erklärt er dem Detective. »Zwei Mädchen, die weiter oben auf der Straße wohnen, mit einem Jungen, den ich nicht kenne. Ich weiß nicht, wie sie heißen, aber ich sehe sie ab und zu. Und ein Typ, den ich kenne. Er stand direkt daneben, als es passiert ist.«
Edgerton schlägt eine neue Seite seines Notizblocks auf und drückt auf seinen Kugelschreiber aus dem städtischen Fundus. Ohne es auszusprechen, haben die beiden Männer begriffen, dass die Anonymität des einen mit der enthüllten Identität eines anderen Zeugen bezahlt wird. Der Dealer bittet um eine neue Zigarette und das Feuerzeug, dann stößt er gemeinsam mit dem Rauch einen Namen aus.
»John Nathan«, wiederholt Edgerton, während er es aufschreibt. »Und wo wohnt er?«
»Ich glaube, in der Catherine Street, gleich nach der Abzweigung von der Frederick.«
»Dealt er?«
»Ja. Ihr habt ihn schon mal eingebuchtet.«
Der Detective nickt, dann klappt er den Notizblock zu. Ein Ermittlerdarf am Tatort eines Drogenmords nur ein begrenztes Quantum an Mitarbeit erwarten, und Edgerton hat gerade seine Monatsration ausgeschöpft. Ohne nachzudenken, streckt der Dealer den Arm aus, um die Abmachung mit einem Handschlag zu besiegeln. Eigenartig, unter diesen Umständen. Aber Edgerton schlägt ein. Ehe er die Autotür öffnet, gibt er ihm noch ein Warnung mit auf den Weg.
»Wenn das nicht stimmt, weiß ich, wo ich Sie finde. Ist das klar?« Dann steigen sie beide aus.
Der Dealer nickt zustimmend, zieht sein Barett tiefer in die Stirn und verschwindet in der Dunkelheit. In den folgenden zehn Minuten zeichnet Edgerton eine Skizze des Tatorts und stellt dem Uniformierten vom Western ein paar Fragen zu dem Namen, den er gerade gehört hat. Wenn Sie ihn sehen, sagt er der Streife, nehmen Sie ihn fest, und geben Sie im Morddezernat Bescheid.
Um halb vier am Morgen kann Edgerton endlich die wenigen Blocks zum Krankenhaus fahren, um seinen Toten zu besuchen. Der einunddreißigjährige, etwa eins fünfundachtzig große Drogenabhängige hat die mächtige Figur eines Footballspielers mit gewaltigen Armen und Beinen und schmalen Hüften. Er wohnte nicht mal einen Block vom Tatort entfernt. Aus einem glasigen Auge blickt Gregory Taylor an die Zimmerdecke der Notaufnahme, das andere ist nach seinem Sturz auf die Paysan Street zugeschwollen. Röhrchen und Katheter hängen schlaff aus verschiedenen Körperteilen, leblos wie der Torso, an dem sie befestigt sind. Edgerton betrachtet die Einstichstellen an beiden Armen und die Schusswunden in der rechten Brusthälfte, der linken Hüfte und dem rechtem Oberarm. Sie sehen aus wie Eintrittswunden, doch bei einer .22er kann man das, wie Edgerton weiß, nie so genau sagen.
»Er wirkt ganz schön fies, nicht wahr?«, sagt Edgerton zu einem Uniformierten, der daneben steht. »Groß und fies. Wahrscheinlich waren sie deshalb auch zu zweit. Ich würde mir diesen Kerl auch nicht allein vornehmen, nicht einmal mit einer Flinte. Ich würde auf jeden Fall einen Freund mitnehmen.«
Aus den gesichteten Spuren kann der Detective zwei weitere Details schließen: Zum einen war die Tat eher ein spontaner als ein geplanter Akt, denn kein auch nur annähernd professioneller Killer würde etwas so Sperriges wie eine 22er-Flinte nehmen, wenn er einen Drogenmordvorhat. Und zweitens war der Schütze verdammt sauer auf Gregory Taylor, wie die zehn Kugel zeigen, mit denen er seinem Ärger Luft gemacht hat.
Edgerton zeichnet die Umrisse eines menschlichen Körpers auf eine neue Seite seines Notizblicks. Dann beugt er sich über den Toten und beginnt, dessen Wunden auf die Skizze zu übertragen. In diesem Augenblick kommt eine schwergewichtige Krankenschwester in den Raum, mit dem unverwechselbaren strengen Ausdruck im Gesicht, der sagt: Raus aus meiner Notaufnahme. Sie schreitet durchs Zimmer und zieht den Plastikvorhang hinter sich zu.
»Sind Sie der zuständige Detective?«
»Ja?«
»Brauchen Sie seine Kleider?«
»Ja, die brauchen wir. Eigentlich müsste hier irgendwo noch ein Officer von der Streife da sein, der sie einpackt. Ich sehe mal …«
»Draußen im Warteraum ist einer bei der Mutter«, sagt die Schwester, hin- und hergerissen zwischen der Freude, ihr Gegenüber verblüffen zu können, und der
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