Homicide
Und als er jetzt wieder einmal vor einer Leiche im Treppenhaus der Murphy Homes steht, ist Edgerton stinksauer, dass der Tote nichts anders getan hat, als sich den Goldenen Schuss zu setzen. Ist es denn wirklich zu viel verlangt, sich einen Mord zu wünschen?, betet er still. Verdammt noch mal, das hier ist Baltimore, und der Tote liegt in einem Treppenhaus der George B. Murphy Homes. Gibt es einen besseren Ort, um sich mit einer hochkalibrigen Waffe das Hirn wegpusten zu lassen? Was macht der Hundesohn hier mit einer Spritze in der linken Hand und starrt mich mit diesem halben Grinsen vom Betonboden aus an?
»Was für einer bist du? Ein Linkshänder?«, fragt Edgerton. Er untersucht noch einmal den rechten Arm. »Wo hast du dir den Mist in die Adern gejagt?«
Der Tote grinst ihn still an.
»Warum tust du mir das an?«, fragt Edgerton die Leiche.
Eine Woche später, in der sich an seiner exponierten Stellung in D’Addarios Schicht nichts geändert hat, rast Edgerton durch Southwest Baltimore zu einem weiteren Einsatz. Die Schüsse, die gefallen sind,werden sich, wenn die Pechsträhne anhält, wieder mal als Streufeuer erweisen. An der Kreuzung von Hollins und Payson wird ihn weder ein Tatort noch ein hingestreckter Toter oder ein Verdächtiger erwarten. Stattdessen sieht Edgerton schon einen Achtzehnjährigen vor sich, der in der Notaufnahme von Bon Secours munter auf einer Rollbahre hockt und sich den mit dem Klettpflaster verbundenen Arm hält.
»Unser Oberboss muss mir allmählich mal eine Pause gönnen«, sagt er, während er auf der menschenleeren Frederick Avenue die Spur wechselt. »Ich kann mir schließlich keinen Mord kaufen.«
Mit quietschenden Reifen hält er an der Ampel in der Monroe Street, dann biegt er nach rechts in die Paysan. Dort begrüßen ihn die flackernden Blaulichter der Streifenwagen, jedoch keine roten Autodächer der Feuerwehr, wie der Detective feststellt. Es liegt auch keine Leiche auf dem Boden. Wenn ein Krankenwagen vor Ort war, denkt Edgerton, ist er schon lange wieder fort.
Er notiert sich seine Ankunftszeit, dann steigt er aus. Ein Uniformierter vom Southwestern District, ein junger Weißer, kommt mit ernster Miene auf ihn zu.
»Lebt er noch?«, fragt Edgerton.
»Wer? Das Opfer?«
Nein, denkt Edgerton. Elvis fucking Presley. Natürlich, das Opfer. Der Detective nickt.
»Ich glaube nicht. Und wenn doch, dann nicht mehr lange. Er sah ganz schön fertig aus, als er da in der Ambulanz lag.«
Der Detective schüttelt den Kopf. Dieser Junge hat keine Ahnung, worauf es Edgerton ankommt. Ich bearbeite keine Morde, hätte er ihm am liebsten gesagt. Ich fahre nur auf Einsatz.
»Aber wir haben einen Zeugen für Sie.«
Ein Zeuge? Also ist es definitiv kein Mord.
»Und wo ist dieser Zeuge?«
»Da hinten, bei meinem Auto.«
Edgerton blickt auf die andere Seite der Kreuzung und sieht einen kleinen, spindeldürren Junkie, der seinen Blick erwidert und ihm mit, wie es scheint, leisem Interesse zunickt. Edgerton wird auf der Stelle misstrauisch. Augenzeugen eines Mords, die man zum Bleiben am Tatort zwingt, sind gewöhnlich unkooperativ und mürrisch.
»Ich gehe gleich zu ihm. Wo ist das Opfer?«
»In Bon Secours, glaube ich.«
»Ist das hier der Tatort?«
»Ja. Und da drüben liegen noch weitere Patronenhülsen. Von einer Zweiundzwanziger, glaube ich.«
Sorgfältig auf seine Schritte bedacht geht Edgerton langsam die Straße ab. Zehn Patronenhülsen, dem Augenschein nach aus einem 22er-Gewehr, liegen eingekreist von gelben Kreidestrichen auf dem Asphalt verstreut. Die Linie dieser Hülsen scheint sich nach Westen zu ziehen; die meisten befinden sich an der südwestlichen Ecke der Kreuzung. Hier zeigen Kreidestriche auch, wo das Opfer lag, als die Sanitäter eintrafen. Der Kopf im Osten, die Füße im Westen am Rand einer Parkbucht.
Der Detective schreitet den Tatort weitere zehn Minuten ab und sucht nach Auffälligkeiten. Keine Blutspuren. Keine frischen Schleifspuren. Keine Reifenspuren. Also nichts Bemerkenswertes. In einem Rinnstein nahe der nordöstlichen Ecke findet er eine aufgebrochene Gelatinekapsel mit Resten weißen Pulvers, an der Kreuzung von Hollins und Payson, einem nächtlichen Drogenumschlagplatz, etwas durchaus Übliches. Vor allem aber ist die Kapsel vergilbt und schmutzig, und Edgerton vermutet, dass sie schon seit mehreren Tagen auf der Straße liegt und mit den Schüssen nichts zu tun hat.
»Ist das hier Ihr Posten?«, fragt er den
Weitere Kostenlose Bücher