Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Homicide

Homicide

Titel: Homicide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Simon
Vom Netzwerk:
kamen oder den Angeklagten freisprachen. Wenigstens hatten sie eine vernünftige Richterin bekommen. Elsbeth Bothe konnte einen zwar mit ihrer Angewohnheit, von der Richterbank aus Zeugen zu befragen, in den Wahnsinn treiben. Einige ihrer Urteile waren wegen solcher Bemerkungen im Revisionsverfahren sogar wieder aufgehoben worden. Doch aus McLarneys Sicht zählte mehr, dass Bothe mit dem Strafmaß nicht zimperlich war. Wenn Butchie Frazier von der Jury angezählt wurde, würde sie ihm sicher den Rest geben.
    Wie alle ihre Richterkollegen urteilte sie mit einem Selbstvertrauen über Menschen, das sie aus ihrem Amt und der Wahl für eine fünfzehnjährige Amtszeit bezog. Sie hatte eine Stimme wie ein Reibeisen, das perfekte Instrument, ihren nie erlahmenden Ärger über Strafverfolger, Staatsanwälte, Angeklagte und das Rechtssystem ganz allgemein auszudrücken. Von der Richterbank aus herrschte Elsbeth Bothe, so weit ihr Blick reichte, und das war gegenwärtig ein aus der nordwestlichen Ecke des reich geschmückten Gebäudes herausgemeißelter holzgetäfelter Gerichtssaal mit einer hohen Decke und Porträts schon längst verstorbener Richter an den Wänden, die streng auf die Anwesenden herabstarrten. Dennoch schien dies auf den ersten Blick kein Ort, der sich für Entscheidungen über Leben und Tod eignete, denn jede Würde, die von dem dunklen Holz der Richterbank und der sonstigen Einrichtung ausgehen mochte, wurde durch ein Wirrwarr dick isolierter Rohre und blecherner Belüftungskanäle an der Decke zerstört. Aus manchen Blickwinkeln wirkte es so, als würde die Richterin in einem zum Gerichtssaal hergerichteten Kellerraum eines Regierungsgebäudes präsidieren.
    Bevor Elsbeth Bothe Richterin wurde, war sie eine der talentiertesten Anwälte in einer aufstrebenden Kanzlei für Strafrechtsfälle gewesen.Manch einer verließ das Gefängnis als freier Mann, nachdem er von Bothe verteidigt worden war. Doch nur bei einem unter ihren Hunderten Mandanten glaubte sie wirklich daran, dass er unschuldig gewesen war. Im Nachhinein gesehen war es die beste Vorbereitung für eine Richterin gewesen, deren Gerichtssaal die stets überfüllte Bühne für einen Großteil von Baltimores Mordprozessen wurde. Die Angeklagten – ob schwarz oder braun und in Ausnahmefällen auch weiß – wurden in hässlichen, schmierigen Gefangenentransportern zum Gericht in die Calvert Street gefahren, um in Handschellen und Fußfesseln aus einer Zelle in den Verhandlungssaal und wieder zurück geführt zu werden. Diese armen, zusammengekauerten Gestalten, die nach der Freiheit schmachteten, waren das Futter, das man jeden Tag in den Trog dieses Systems füllte, und ob nun Plädoyer oder Urteil anstand – gefressen wurden sie sowieso. Tag für Tag erhielten die Anwälte ihren Anteil, die Gefängnisse wurden gefüllt und die Maschinerie ratterte weiter. Aus eigener Neigung und unterstützt durch die Umstände wurde Bothe eine von drei Richtern, die zusammen in über 60 Prozent der etwa hundertfünfzig jährlich am Bezirksgericht verhandelten Mordprozesse den Vorsitz führten. Es war eine trostlose und erbärmliche Parade, eine einzige Aneinanderreihung menschlichen Elends, für die Bothe psychisch und von ihrem Temperament her aber wie geschaffen war.
    Schon allein ihr Büro sprach da Bände. Zwischen Gesetzbüchern von Maryland und juristischen Fachschriften stand eine Sammlung von Menschenschädeln – zumeist karikaturhafte Nachbildungen, nur einer war echt –, die es mit jeder Vitrine eines Anthropologen hätten aufnehmen können. Und an den Wänden hingen Original-Titelseiten der
Police Gazette
aus der Zeit um 1900, die allesamt von schrecklichen Gewalttaten kündeten. Für Mordermittler hatte diese durchaus spezielle Sammelneigung etwas Beruhigendes. Sie versicherte ihnen, dass Elsbeth Bothe – wie jeder Cop, der etwas auf sich hielt – die interessanten Aspekte eines guten Mordes zu schätzen wusste.
    Nicht, dass Bothe eine Richterin gewesen wäre, die allzu rasch die Todesstrafe verhängte. Wie alle, die am laufenden Band mit Mord zu tun hatten, empfand sie es nicht als unter ihrer Würde, ein Urteil auszuhandeln, wenn sie damit ein paar schlichte Mordfälle von der Prozessliste streichen konnte. In Baltimore gilt wie überall in Amerika: Nurvorprozessuale Deals verhindern, dass das Rechtssystem unter der Last der Fälle zusammenbricht. Allerdings setzt das voraus, dass Staatsanwälte und Richter ein Gespür dafür haben, welche Fälle

Weitere Kostenlose Bücher