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Homicide

Homicide

Titel: Homicide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Simon
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Anwälte verfolgen mit angehaltenem Atem, wie Police Agent Gene Cassidy die rechte Hand ausstreckt, einen Holzbalken berührt und sich allein in den Zeugenstand vortastet. Patti streicht ihm über die Schulter, flüstert ihm etwas zu und setzt sich auf eine Bank hinter dem Tisch der Anklagevertreter.
    Der Gerichtssekretär erhebt sich. »Schwören Sie, dass Sie die Wahrheit sagen und nichts als die Wahrheit?«
    »Ich schwöre es«, sagt Cassidy mit klarer Stimme.
    Gene Cassidys Auftritt im Zeugenstand ist an diesem Ort der halben Siege und farblosen Kompromisse eine aufsehenerregende Ausnahme. Er hat Terry McLarney und Corey Belt und die anderen Männer vom Western District, die ihm vor den Türen des Gerichtssaals mit den üblichen Männerallüren und der nonverbalen Aufforderung »Zeig’s ihnen« an den Schultern gepackt haben, nicht sehen können. Er sieht auch nicht seine Frau in ihrem hübschen Kleid, im achten Monat schwanger, die in der ersten Reihe der Zuschauerbänke sitzt. Er sieht nicht, dass einer der Geschworenen, der jungen Weißen, in der hinteren Reihe stille Tränen über die Wangen rollen. Er sieht weder die kalte Wut im Gesicht der Richterin noch Butchie Frazier, den Mann, der ihm mit zwei Kugeln aus einer 38er das Augenlicht genommen hat und der ihn nun vom nur wenige Schritte entfernten Tisch des Verteidigers aus mit einer befremdlichen Faszination anstarrt.
    Auf den Besucherbänken drängen sich uniformierte Officers vom Western District – eine Demonstration der Solidarität, an der sich die Chefs nicht beteiligen. Weder ist der District Commander anwesend, noch der Chief of Patrol oder einer der beiden stellvertretenden Polizeichefs. Die Männer vom Fußvolk nehmen es mit einer gewissen Bitterkeit zur Kenntnis. Da fängst du dir für den Verein eine Kugel ein,und dann lassen sie dich hängen. Die Bosse besuchen dich vielleicht noch im Krankenhaus, und ganz bestimmt kommen sie zum Begräbnis, aber sonst hat der Apparat ein kurzes Gedächtnis. Keiner mit einem höheren Rang als dem des Sergeant ist zu Cassidys Prozess erschienen. Die restlichen Plätze teilen sich Cassidys Verwandte, eine Handvoll Reporter, neugierige Stammgäste des Gerichts und ein paar Freunde und Angehörige von Butchie Frazier.
    Während der Wahl der Geschworenen war plötzlich Butchies jüngerer Bruder Derrick im Flur vor dem Gerichtssaal aufgetaucht, wo die Zeugen der Anklage auf ihren Aufruf warteten. Derrick starrte den einen provozierend an, belaberte einen anderen, und dann standen plötzlich McLarney und zwei Officers vom Western vor ihm und machten ihm klar, dass er sich am besten sofort aus dem Staub machte, wenn er das Gebäude als freier Mann verlassen wollte. Bei der Aussicht, unsanft in einen Polizeiwagen verfrachtet zu werden, stieß Derrick Frazier noch ein paar Flüche aus, drehte sich dann aber auf dem Absatz um und marschierte zum Ausgang St. Paul Street.
    »Tja«, sagte McLarney zu einem vom Western District. »Den setzen wir jetzt wohl auch auf unsere Liste, oder?«
    Der Uniformierte schüttelte den Kopf. »So ein Arschloch …«
    »Vergiss ihn«, erwiderte McLarney ernst. »Irgendwann malen wir mit Kreide die Umrisse um seinen Arsch.«
    Für McLarney war der Cassidy-Prozess eine einzige Tortur, die aus stundenlangem untätigen Warten in den Gerichtsfluren und Büros der Staatsanwaltschaft bestand. Weil er als Zeuge in das nach Clarence M. Mitchell Jr. benannte Gericht geladen war, durfte er an der Verhandlung nicht teilnehmen, sodass er nicht mitbekam, was hinter den dick gepolsterten Türen des Saals im ersten Stock vor sich ging. Während der wichtigste Prozess seines Lebens auf ein Urteil zuschlingerte, konnte McLarney lediglich von einer Bank im Flur aus den Aufmarsch der Zeugen beobachten und in den Pausen die Staatsanwälte Howard Gersh und Gary Schenker löchern.
    »Wie läuft’s da drinnen?«
    »Gewinnen wir?«
    »Wie hat Gene sich geschlagen?«
    »Wird Butchie aussagen?«
    Als McLarney am Vortag den Flur im ersten Stock auf- und abtigerte, versuchte er, sich ihre Chancen auszurechnen. Er schätzte 40 Prozent für vorsätzlichen Mordversuch, vielleicht 50, wenn Yolanda bei dem blieb, was sie nach dem Lügendetektortest im Februar vor der Grand Jury gegen Butchie ausgesagt hatte. Die Chancen für eine Verurteilung wegen versuchten Mordes mit bedingtem Vorsatz oder versuchten Totschlags standen bei 40 Prozent. Blieben 20 Prozent für die Möglichkeit, dass die Geschworenen zu keiner Einigung

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