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Homicide

Homicide

Titel: Homicide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Simon
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ihren Auftritt hat. Davor hatte bereits ein Chirurg des Universitätskrankenhauses den Geschworenen in allen medizinischen Einzelheiten erklärt, welchen Weg die beiden Kugeln genommen hatten und dass ein Mensch solche Verletzungen normalerweise nicht überlebt. Und doch stand nun Cassidy, von den Toten auferstanden, hier im dunkelblauen Anzug vor dem Mann, der ihn beinahe umgebracht hatte.
    »Agent Cassidy«, sagt die Bothe mitfühlend. »Vor Ihnen steht ein Mikrofon … Wenn Sie bitte dort hineinsprechen würden …«
    Cassidy streckt die Hand aus und berührt das Metall.
    Dann stellt Schenker seine einleitenden Fragen. »Agent Cassidy, wie lange waren sie Polizist in Baltimore…«
    Während Schenker fortfährt, wandern die Blicke einzelner Geschworenen von Cassidy zu Butchie Frazier und wieder zurück. Die beiden Männer sind nur knapp zwei Meter voneinander getrennt, und Frazier betrachtet mit echter Neugier Cassidys Schläfe. Die Narbe ist von pechschwarzem Haar bedeckt, und die Verletzungen in seinem Gesicht sind gut verheilt. Nur die Augen verraten, was ihm angetan wurde: Eins ist blau und blickt leer, das andere ist getrübt und entstellt.
    »Stimmt es, dass Sie vollständig erblindet sind?« fragt Schenker.
    »Ja, das stimmt«, antwortete Cassidy. »Außerdem habe ich meinen Geruchs- und Geschmackssinn verloren.«
    Der Wert eines solchen Zeugen kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Bei jedem Mordprozess existiert das Opfer für die Geschworenen nur als etwas Abstraktes, vertreten durch einen Autopsiebericht und ein paar Fotos vom Tatort. Hingegen ist der Angeklagte für die gesamte Prozessdauer ein Wesen aus Fleisch und Blut. Ein gewiefter Verteidiger lässt die Menschlichkeit seines Mandanten stärker in den Vordergrund treten als die Unmenschlichkeit des Verbrechens, die Normalität des Täters mehr als das Außergewöhnliche der Taten, die ihm zur Last gelegt werden. Ein guter Verteidiger setzt sich neben seinen Mandanten, tippt ihn freundlich an, wenn er seine Aufmerksamkeit will, legt ihm den Arm um die Schultern, um den Geschworenen zu zeigen, dass er den Kerl mag und an ihn glaubt. Manche gehen sogar so weit, dem Angeklagten Pfefferminzpastillen oder Drops zuzustecken, die er in einem geeigneten Augenblick herausholen und demVerteidiger, vielleicht sogar auch dem nicht weit entfernt sitzenden Staatsanwalt anbieten soll. Sehen Sie nur, meine Damen und Herren, wie menschlich er ist. Er mag Pfefferminz. Er kann teilen.
    Gene Cassidy aber verweigert Butchie Frazier diesen Vorteil. Bei diesem Prozess ist auch er in Fleisch und Blut zugegen.
    Schenker fährt fort. »Was ist an dem besagten Abend geschehen? Vorausgesetzt, Sie können sich erinnern …«
    Cassidy verzieht kurz das Gesicht, ehe er antwortet. »Ich habe keinerlei Erinnerungen an den Vorfall … an die Schüsse«, erklärt er langsam. »Das Letzte, an das ich mich erinnern kann, ist, dass ich am Nachmittag bei meinem Schwiegervater in Pennsylvania war.«
    »Können Sie sich noch daran erinnern, dass Sie an jenem Tag zur Arbeit gegangen sind?«
    »Es muss so gewesen sein«, sagt Cassidy. »Aber nach dem Besuch bei meinem Schwiegervater ist die Erinnerung abgerissen. Man hat mir gesagt, dass das bei dieser Art von Verletzungen recht häufig vorkommt …«
    »Officer Cassidy«, fährt Bothe dazwischen, »Ich nehme an, das ist Ihre Frau, die Sie zum Zeugenstand geführt hat.«
    »Ja, Euer Ehren.«
    »Und so, wie es aussieht«, fährt die Richterin rasch fort, damit es nicht unbemerkt bleibt, »erwartet sie ein Kind …«
    »Ja. Es soll am vierten Juli zur Welt kommen.«
    Am vierten Juli, am Nationalfeiertag. Der Verteidiger schüttelt den Kopf.
    »Ist es Ihr erstes Kind?« Die Richterin wirft den Geschworenen auf der Bank einen Blick zu.
    »Ja.«
    »Danke, Officer Cassidy. Das wollte ich nur wissen.«
    Nun ist der Verteidiger in arger Bedrängnis. Was kann man einem erblindeten Streifenpolizisten mit einer hochschwangeren Frau, die auch noch im Saal ist, entgegensetzen? Was soll er in einem Kreuzverhör da noch fragen? Womit könnte er noch punkten? Wo bleibt in einem solchen Szenario seinem Mandanten noch die Luft zum Atmen?
    »Keine Fragen, Euer Ehren.«
    »Damit ist der Zeuge entlassen. Vielen Dank, Agent Cassidy.«
    Draußen auf dem Gang sieht McLarney, wie sich die Polstertüren zur Pause öffnen. Die Geschworenen sind schon oben im Besprechungsraum; Bothe sitzt bereits wieder in ihrem Büro. Patti führt Gene am Arm heraus, und Schenker

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