Homicide
stellvertretenden Anstaltsdirektor. Neun Gefängniswärter wurden ins Krankenhaus eingeliefert, drei Gefangene in die Notaufnahme gebracht. Die Gefängnisleitung ist zwar für die Sicherheit verantwortlich, aber das Morddezernat wird die Ermittlungen gegen die Insassen aufnehmen, die sich am Aufruhr beteiligt haben. Jedenfalls der Theorie nach. Es ist nämlich nicht leicht für die Wärter, sich an einzelne Gesichter aus der ganzen Horde zu erinnern, die mit Aluminiumschlägern auf sie eingeprügelt hat. Nach einer Stunde stehen auf der vorläufigen Liste von Verdächtigen nur dreizehn Gefangene, die zweifelsfrei identifiziert werden konnten.
Landsman und Dick Fahlteich, der leitende Ermittler für die Revolte, lassen die Genannten in das Büro des stellvertretenden Anstaltsleiters holen. Gefesselt, in Handschellen und mit ausdruckslosem Gesicht betreten sie nacheinander den Raum. Eine rasche Überprüfung zeigt, dass jeder, aber auch jeder von ihnen ein Produkt Baltimores ist und bis auf vier alle wegen Mord einsitzt. Jeder zweite Name auf derListe weckt bei dem einen oder anderen Detective Erinnerungen. Clarence Mouzone? Dieser verrückte Scheißkerl beging drei oder vier Morde, bis Willis ihn schließlich in einem Fall überführen konnte. Wyman Ushery? Hat der nicht ’81 den Jungen an der Crown Station umgelegt? Ich glaube, Litzinger hat damals die Sache übernommen. Verdammt, genau, das ist er.
Die Beschuldigten hören teilnahmslos zu, als Landsman ihnen erklärt, man habe sie beim Angriff auf diesen oder jenen Wärter gesehen. Sie geben sich gelangweilt, blicken aber zwischen den Detectives hin und her, als suchten sie nach etwas Bekanntem. Man kann fast hören, was sie denken: An den kann ich mich nicht erinnern, aber der da war bei meiner Gegenüberstellung dabei, und der in der Ecke hat vor Gericht gegen mich ausgesagt.
»Wollen Sie noch was sagen?«, fragt Landsman.
»Ihnen sag ich gar nichts.«
»Okay«, erwidert Landsman lächelnd. »Bis bald.«
Einer der Letzten, die die Straße der Erinnerung entlangschlendern, ist ein wuchtig gebauter Neunzehnjähriger, ein Junge mit dem Körperbau eines Berufsboxers, den er sich nur im Kraftraum eines Gefängnisses zugelegt haben kann. Ransom Watkins schüttelt mitten in Landsmans Ansprache den Kopf.
»Ich sage nichts.«
»Also gut.«
»Aber ich habe eine Frage an den Mann dort«, sagt er, wobei er Kincaid scharf anblickt. »Ich wette, Sie erinnern sich nicht einmal an mich.«
»Doch, natürlich«, erwidert der Detective. »Ich habe nämlich ein gutes Gedächtnis.«
Ransom Watkins war gerade mal fünfzehn, als Kincaid ihn ’83 wegen des Mords an Dewitt Duckett hinter Gitter brachte. Watkins war damals noch nicht so ein Muskelpaket, aber schon genauso abgebrüht und einer der drei Jungs von der West Side, die in einem Flur der Harlem Park Junior High School einen Vierzehnjährigen erschossen und anschließend dem Sterbenden die Georgetown-Sportjacke vom Leib rissen. Andere Schüler erkannten das Trio, das von der Schule wegrannte, und Kincaid entdeckte im Schrank eines der Verdächtigen die fehlende Jacke. Am nächsten Morgen rissen Watkins und die anderen,angeklagt nach dem Erwachsenenstrafrecht, im Gefängnis des Western District Witze.
»Sie erinnern sich noch an mich, Detective?«, fragt Watkins jetzt.
»Ja.«
»Wenn Sie sich an mich erinnern, können Sie da nachts überhaupt noch schlafen?«
»Ziemlich gut sogar«, erwidert Kincaid. »Und du?«
»Was meinen Sie? Wie schlafe ich wohl, wo Sie mich hier wegen einer Sache eingelocht haben, die ich gar nicht getan habe?«
Kincaid schüttelt den Kopf, dann zupft er einen Fussel von seinem Hosenaufschlag.
»Du hast es getan«, sagt er.
»Verdammt, nein«, schreit der Junge, wobei sich seine Stimme überschlägt. »Sie haben damals gelogen, und Sie lügen jetzt.«
»Nein«, sagt Kincaid leise. »Du hast ihn umgebracht.«
Watkins belegt ihn mit Schimpfwörtern, aber der Detective sieht ihn nur seelenruhig an. Und obwohl der Junge anfängt, Argumente vorzubringen, ruft Landsman die Wachen, um ihn abzuführen.
»Wir sind fertig mit dem Arschloch«, sagt er. »Schicken Sie den nächsten rein.«
Es dauert noch zwei Stunden, bis sich die Detectives auf den Rückweg machen. Sie durchwandern das Labyrinth von Stahlgittern, Metalldetektoren und Kontrollstellen, durchqueren den Besucherbereich und gelangen endlich zu den Schließfächern, in denen ihre Dienstwaffen aufbewahrt wurden.
Draußen vor dem
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